14.04 nach der natur

gerhard-marcs-haus, bremen

after nature


yvette desey­ve: in dei­ner künst­le­ri­schen arbeit spie­len natur und kunst eine gro­ße rol­le. im von dir initi­ier­ten »zen­trum für neue lebens­for­men « ent­ste­hen pos­te­vo­lu­tio­nä­re, fik­ti­ve orga­nis­men. was genau ver­stehst du unter dem begriff »bion­ten«?
die bion­ten sind zunächst skulp­tu­ren. in ihrer mor­pho­lo­gie erin­nern sie an pflan­zen- oder tier­ähn­li­che lebe­we­sen, ohne dass sich bekann­te orga­nis­men wie­der­erken­nen las­sen. es geht nicht um die visu­el­le prä­sen­ta­ti­on der schon vor­han­de­nen viel­falt des lebens, son­dern um die mög­lich­keit syn­the­ti­scher orga­nis­men, die in abseh­ba­rer zukunft unse­re vor­han­de­ne welt berei­chern wer­den. die­ser teil mei­ner arbeit kreist also um plas­ti­sche optio­nen neu­er lebens­for­men und ande­rer erschei­nun­gen. in plas­ti­scher aus­ein­an­der­set­zung im real­raum suche ich nach gestalt und form­prin­zi­pi­en. all­ge­mei­ner gese­hen stel­len die bion­ten fra­ge nach der not­wen­dig­keit und den mög­lich­kei­ten von kunst im gesell­schaft­li­chen kontext.

yvette desey­ve: wie ver­hal­ten sich in dei­nem werk modell, idee und aus­ge­führ­te skulp­tur zueinander?
ich ent­wer­fe mei­ne objek­te als model­le indem ich sie benen­ne und kata­lo­gi­sie­re. indem ich ihnen eine auf­ga­be jen­seits der kunst zuspre­che ver­las­se ich die sphä­re von kunst und suche die begeg­nung mit den berei­chen unse­rer gesell­schaft, die als natur­wis­sen­schaft, tech­no­lo­gie oder kul­tur­wis­sen­schaft­li­che refle­xi­on unser ver­hält­nis zur welt bestim­men und bespre­chen. was ich zu zei­gen ver­su­che, ist zum einen unüber­seh­bar sinn­lich und zugleich sinn­lich gar nicht erfass­bar: die ästhe­ti­sche prä­senz der objek­te wird durch ihre lexi­ka­li­sche indi­zie­rung als wis­sen­schaft­li­ches arran­ge­ment gebro­chen. für die aus­stel­lung »jen­seits des men­schen« im medi­zin­his­to­ri­schen muse­um der cha­ri­té in ber­lin habe ich das ers­te mal mit wachs gear­bei­tet. die prä­pa­ra­to­rin der patho­lo­gie hat mir die his­to­ri­sche tech­nik der mou­la­gen­her­stel­lung ver­mit­telt. über sie habe ich das prä­pa­ra­to­ri­sche arbei­ten mit wachs gelernt. für die aus­stel­lung habe ich organ­ar­ti­ge skulp­tu­ren gebil­det. sie bezie­hen sich auf den mensch­li­chen kör­per. die ein­zel­nen skulp­tu­ren sind stark aus dem pro­zess her­aus geformt. die gesam­te rei­he die­ser uto­pi­schen for­men zukünf­ti­gen mensch­seins sind von der idee getra­gen, dass der mensch die tota­le kon­trol­le über sei­ne bio­lo­gi­sche ver­fasst­heit erlangt und beginnt, jen­seits sei­ner eige­nen kör­per­li­chen exis­tenz, außer­halb sei­ner kör­per­hül­le, zweck­freie organ­ar­ti­ge gewe­be­tei­le zu züchten.

yvette desey­ve: erstaun­lich ist dein ste­ter rück­be­zug zum men­schen – stich­wort anthro­pophi­lie. war­um die­ser rück­be­zug und war­um nicht blo­ße fiktion?
bei der anthro­pophi­lie geht es um orga­nis­men, die den men­schen ver­füh­ren und ihn zum wirt machen, mit ihm ver­schmel­zen oder ihn als nah­rungs­quel­le nut­zen. das ist anti-anthro­po­zen­tris­tisch gedacht. die objek­te und tex­te sind ein reflex auf ideen, die mit der bio­lo­gin und natur­wis­sen­schafts­his­to­ri­ke­rin don­na hara­way (geb. 1944) auf­ge­kom­men sind. die­ser bezug ist auf der documenta(13) in »the world­ly house. an archi­ve inspi­red by don­na haraway’s wri­tin­gs on mul­tis­pe­ci­es co-evo­lu­ti­on« auf­ge­zeigt wor­den, in dem bücher und fil­me von mir gezeigt wur­den. wir kön­nen davon aus­ge­hen, dass natur­wis­sen­schaft eben­so wie kunst oder lite­ra­tur eine erzäh­lung ist. daher ist die ant­wort auf dei­ne fra­ge: der rück­be­zug zum men­schen kann auch als fik­ti­on gese­hen werden.

yvette desey­ve: in dei­nen bion­ten ent­wi­ckelst du regel­rech­te stamm­bäu­me und sys­tem­grup­pen. von ger­hard marcks ist der aus­spruch über­lie­fert: »man ist als künst­ler nur ein blatt am bau­me der tra­di­ti­on.« was bedeu­tet für dich künst­le­risch die­ser traditionsbegriff?
bei bild­haue­rei geht es heu­te weder ein­fach um mas­se, form und ober­flä­che noch um umwelt­ak­ti­vis­mus oder sozi­al­ar­beits­ähn­li­che akti­vi­tä­ten ohne gestal­tungs­ab­sicht. aber wor­um dann? künst­ler eig­nen sich prak­ti­sches spe­zi­al­wis­sen an, viel­leicht kann man das ästhe­ti­sche auf­merk­sam­keit gekop­pelt mit gestal­te­ri­scher kom­pe­tenz nen­nen. so ist es dann in mei­nem fall zu arbei­ten gekom­men, bei denen ich expe­ri­men­tell auf die her­stel­lung von sinn aus war. ich habe anord­nun­gen geschaf­fen, die als spiel eines demi­ur­gen gese­hen wur­den. da ich aber nur model­le erar­beit habe, muss­te ich die rea­len fol­gen nicht ver­tre­ten. die behaup­tung der gestal­tungs­macht jen­seits der kunst in die bio­lo­gie hin­ein war für mich ein antrieb für die »wesen«. aber auch für die arbei­ten danach wie zum bei­spiel die »wol­ken­ma­schi­ne« bei der emscher­kunst ist die über­schrei­tung des kunst­rah­mens stets gewollt.

yvette desey­ve: in dem berühmt gewor­de­nen auf­satz »art con­cret« beschreibt arp sein kunst­wol­len als ein nicht-kopie­ren-wol­len, ein nicht- repro­du­zie­ren-wol­len. gleich­zei­tig for­mu­liert arp einen anspruch an die kunst, mit sei­ner arbeit die welt zu »ver­wan­deln«. wel­che rol­le spielt arp mit sei­ner idee der bio­mor­phen plas­tik für dich?
er hat skulp­tu­ren geschaf­fen, die nicht abbil­den. er hat orga­nisch anmu­ten­de objek­te gear­bei­tet, die erfin­dun­gen sind. er ver­lässt die imi­ta­ti­on von leben­dem, wie sie die figür­li­che plas­tik ver­folgt und erar­bei­tet (fast mime­tisch) ana­log zu pro­zes­sen der natur for­men, die gewach­sen sein könn­ten. damit ist sei­ne her­an­ge­hens­wei­se mit mei­ner verwandt.

yvette desey­ve: in einem inter­view hast du ein­mal sinn­ge­mäß geäu­ßert, dass bild­haue­rei mehr sei als die her­stel­lung von aus­stel­lungs­ob­jek­ten, da bestand­teil einer kom­ple­xe­ren arbeit. kannst du den kon­text beschrei­ben, indem dei­ne wer­ke stehen?
wenn ich mei­ne arbeit betrach­te, erscheint sie mir als ein reflex auf den umschlag im ver­hält­nis des men­schen zur natur, die sich nicht mehr nur als gegen­über begrei­fen lässt. was als irri­ta­ti­on die gegen­wart beglei­tet, ist aus­gangs­punkt für den künst­le­ri­schen pro­zess. mei­ne ästhe­ti­sche stra­te­gie ver­sucht die sphä­re des ästhe­ti­schen zu ver­las­sen und the­ma­ti­siert als kunst unse­re gesell­schaft­li­che pra­xis im ganzen.

yvette desey­ve: du hast das »insti­tut für bio­lo­gi­sche plas­tik« in braun­schweig mit ins leben geru­fen. was ist die zugrun­de lie­gen­de idee, wel­che for­schungs­zie­le hat das institut?
wis­sens­be­rei­che wie die moder­ne mole­ku­lar­bio­lo­gie, die gen­tech­nik und die syn­the­ti­sche bio­lo­gie wer­den eine dra­ma­ti­sche wir­kung sowohl auf den fort­gang der evo­lu­ti­on als auch auf die kunst haben, die in ihrer kon­se­quenz bis­lang nur vage fass­bar ist. eine vom men­schen gestal­te­te bio­tech­no­lo­gi­sche zukunft könn­te – bei aller not­wen­di­gen skep­sis – ein unge­heu­res schöp­fe­ri­sches poten­zi­al ber­gen, das neue künst­le­ri­sche aus­drucks­for­men bereit­hält und zu einer neu­en ver­bin­dung zwi­schen kunst, wis­sen­schaft und gesell­schaft füh­ren könn­te. infol­ge ihrer spe­zia­li­sie­rung erklärt uns wis­sen­schaft inzwi­schen nur noch aus­schnit­te von natur, nicht sie im gan­zen. es ist kein gebil­de von theo­rie sicht­bar, das alles wis­sen über sie inte­grie­ren könn­te; einig­keit besteht aber über ein metho­disch über­prüf­ba­res vor­ge­hen, das die all­ge­mein­heit von erkennt­nis gewähr­leis­tet. von inter­es­se für die wis­sen­schaft ist natur auch, wo sie mit dem ver­mit­telt wird, was ihren unver­än­der­li­chen geset­zen schein­bar gegen­über­steht: mit geschich­te. so sind erd­ge­schich­te, die geschich­te einer land­schaft, die ent­wick­lung der mensch­li­chen natur oder die der natur­wis­sen­schaf­ten per­spek­ti­ven, in denen natur nicht als das ande­re von kul­tur figu­riert, son­dern als ein bereich, des­sen objek­ti­vi­tät offen ist: natur­ge­set­ze ver­än­dern sich nicht, aber als pro­zess hat natur zukunft.

yvette desey­ve: jack burn­ham pro­gnos­ti­zier­te bereits in den 1960er-jah­ren vor allem im hin­blick auf die bio­tech­ni­schen ent­wick­lun­gen eine »neue« bild­haue­rei und frag­te: »ist es nicht mög­lich, dass kunst – zumin­dest im fall der skulp­tur – eine art bio­lo­gi­sches zei­chen ist?« was hältst du von die­ser vision?
kann es noch den »bild- hau­er« geben? burn­ham hat mei­nes erach­tens zurecht den blick auf skulp­tur erwei­tert, indem er ein ver­ständ­nis für die arbei­ten, die pro­zes­se initi­ie­ren anstel­le zu model­lie­ren, erar­bei­tet hat. die rol­le der bio­lo­gie hat er dabei wich­tig genommen.

yvette desey­ve: in zusam­men­ar­beit mit dem »deut­schen insti­tut für zell- und gewe­be­er­satz« hast du eine »leben­de skulp­tur« aus eige­nem zell­ma­te­ri­al geschaf­fen. wel­che rol­le kommt dem mate­ri­al in dei­ner künst­le­ri­schen visi­on zu?
das ers­te objekt aus mensch­li­cher sub­stanz habe ich zur aus­stel­lung »jen­sei­tes des men­schen« her­stel­len kön­nen. es ist mit unter­stüt­zung der cha­ri­té und der ber­lin bran­den­bur­gi­schen aka­de­mie der wis­sen­schaf­ten und einer för­de­rung der sche­ring­stif­tung rea­li­siert wor­den. die­ses objekt ist als prä­pa­rat kon­ser­viert. die arbeit an die­sem bio­fakt aus makro­sko­pi­scher leben­di­ger sub­stanz ist im zusam­men­hang mit mei­nen modell­haf­ten arbei­ten wesent­lich, um nicht in der meta­pho­ri­schen ebe­ne der model­le zu blei­ben. eine arbeit aus leben­der sub­stanz ist in dem mate­ri­al geformt, um das es am ende geht. mit dem ver­such eine »leben­de skulp­tur« her­zu­stel­len, nut­ze ich moder­ne bio­wis­sen­schaf­ten für die kunst. dabei inter­es­sie­ren mich die ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten des mensch­li­chen daseins. die skulp­tur zeigt eine noch nicht exis­tie­ren­de form des mensch­seins. die aus ent­nom­me­nem gewe­be ent­stan­de­ne skulp­tur kann als vor­stu­fe für das model­lie­ren von leben­di­gem mate­ri­al ver­stan­den wer­den. ich begin­ne jen­seits mei­ner eige­nen kör­per­li­chen exis­tenz, außer­halb mei­ner kör­per­hül­le, völ­lig zweck­freie organ­ar­ti­ge gewe­be­tei­le als auto­no­me orga­nis­men zu züchten.

yvette desey­ve: mit der »trans­ge­nen kunst« bewegt sich kunst in einem ethi­schen grenz­be­reich. muss oder darf es gren­zen für die kunst geben?
bei künst­le­ri­schen arbei­ten mit bio­lo­gi­schen tech­ni­ken geht es eher um grenz­über­schrei­tun­gen zwi­schen kunst und wis­sen­schaft. gren­zen für die kunst sind schon lan­ge vor­her gestellt wor­den. kunst kann anders als natur- und geis­tes­wis­sen­schaft jeden ethisch-mora­li­schen kon­text igno­rie­ren. sie muss für die kei­me, die sie wach­sen lässt, kei­ne ver­ant­wor­tung über­neh­men. mich inter­es­siert in die­sem zusam­men­hang ein pro­jekt, das nicht bild­haue­risch mit mate­ri­al umgeht, son­dern eine gesam­te neue gesell­schafts­form schafft. der arbeits­ti­tel ist »or«. das steht für »orga­nis­mi­sche repu­blik«. ich suche nach bio­lo­gisch beding­ten grund­la­gen für ein mit­ein­an­der. dabei begin­ne ich nicht inner­halb bestehen­der kon­ven­tio­nen wie zum bei­spiel der char­ta der men­schen­rech­te. alles steht zur dis­po­si­ti­on: was erlaubt ist, was nicht, wird ganz neu auf der basis der bio­lo­gi­schen kon­sti­tu­ti­on des men­schen ent­wi­ckelt. dabei ist völ­lig offen, was dabei her­aus­kommt. schließ­lich steht dann der schritt bevor die­ses theo­re­ti­sche kon­strukt mit ande­ren men­schen wirk­lich­keit wer­den zu las­sen und ein ter­ri­to­ri­um zu fin­den, auf dem sich »or« grün­den lässt.