Thailändisches Erbgut

Rei­ner Maria Matysik

Ich füh­le in mei­nem Kopf eine Betäu­bung, wie in einer Trun­ken­heit; ein hef­ti­ges Herz­klop­fen befällt mich und nimmt mir die Luft. Ich kann im Gehen nicht mehr atmen und las­se mich unter einem der immer­grü­nen Bäu­me nie­der­fal­len. Dort ver­brin­ge ich eine hal­be Stun­de in einer unbe­schreib­li­chen Erre­gung. Als ich wie­der auf­ste­he, bemer­ke ich, dass mein Hemd von Flüs­sig­keit feucht ist, die ich ver­gos­sen hat­te, ohne es zu bemer­ken. Oh, wenn ich je auch nur ein Vier­tel von dem hät­te fest­hal­ten kön­nen, was ich unter jenem Baum gefühlt und gese­hen habe, mit wel­cher Klar­heit hät­te ich nicht all die Wider­sprü­che unse­res Sys­tems ent­hüllt, mit wel­cher Kraft hät­te ich nicht die Miss­stän­de unse­rer Insti­tu­tio­nen dar­ge­tan, mit wel­cher Ein­fach­heit hät­te ich nicht bewie­sen, dass der Mensch von Natur aus gut ist und es allein die Zwän­ge der Gesell­schaft sind, die die Men­schen böse machen. All das aber, was ich von der Fül­le der gro­ßen Wahr­hei­ten, die in einer Vier­tel­stun­de mich unter die­sem Baum erleuch­te­ten, habe fest­hal­ten kön­nen, ist in die­sem Buch zu finden.

Da war er in sei­nem 15. Lebens­jahr. Nicht ganz allein. Viel­mehr oft allein. Nicht völ­lig unglück­lich. Aber häu­fig nicht glück­lich mit sei­ner Situa­ti­on. nicht ein Frem­der. Und doch einer, der sich oft fremd fühl­te. So zog er in den Rest­wald. Zog sich zurück. Dort war es ihm nicht wohl, aber woh­ler als vor­her. Es ging ihm nicht gut, aber es war aus­zu­hal­ten. Hier war er inmit­ten der Gewäch­se. Sie waren nicht der rech­te Ersatz für die ande­ren. Sie waren kein wah­res Gegen­über. Aber sie waren da. Und so nahm er das Rest­wald­grün und ver­such­te sich ein­zu­rich­ten in die­sem Dickicht und sehn­te sich nach ande­ren. Doch er hat­te nur die pflan­zen. Er erkun­de­te eine Blü­te, einen Geruch oder einen Bach. Es gab Momen­te der Zufrie­den­heit, Erleb­nis­se und Ent­de­ckun­gen. Er hat leb­te wei­ter­hin als Mensch unter Gewäch­sen. Allein Pflan­zen waren um ihn her­um. In die­ser Ersatz­idyl­le ent­wi­ckel­te er ein enges Ver­hält­nis zu den Pflan­zen. Als er ein­mal in den Wald ging, öff­ne­te ihm der Ast einer Pflan­ze die Haut. Schob sich in ihn und bet­te­te ihren Samen in sein Fleisch. Spä­ter frag­te er sich, wie las­sen sich Ver­bin­dun­gen zwi­schen Mensch und Pflan­ze schaf­fen? Muss der Mensch zur Pflan­ze und die Pflan­ze zum Mensch wer­den? Zu beginn der Pflan­zen­wer­dung waren pflanz­li­che Orga­nis­men noch mobil. Im Lauf der Zeit ver­zich­te­ten die meis­ten Wesen der Pflan­zen­welt auf ihre Mobi­li­tät. Das Leben hat sich in den Pflan­zen für Ruhe und Sanft­mut ent­schie­den. Lässt sich der mensch­li­che Geno­typ so aus­prä­gen, dass sein Genom sich zu einem pflan­zen­ar­ti­gen Orga­nis­mus ent­wi­ckelt? Wären die Pflan­zen zu die­ser Zeit macht­vol­ler gewe­sen, sei­ne Begier­de zu stil­len, was wäre noch geschehen?

Noch vor dem Abitur zog ich von Zuhau­se fort in eine Lebens­ge­mein­schaft. Zwei Jah­re leb­te und arbei­te­te ich dort am Fuß des Sie­ben­ge­bir­ges. Ich war ein Teil der Gemein­schaft und Gärt­ner. Von dort aus ging ich nach Irland. Drei Jah­re leb­te ich mit einem Freund aus der Kom­mu­ne (Leo) in einem klei­nen alten Haus am Hang eines Tales mit dem Namen »Core«. Wir waren lan­ge Zeit ohne Elek­tri­zi­tät, erst nach Mona­ten lie­ßen wir uns Strom legen. Wir hol­ten unser Was­ser aus dem Brun­nen im Hof und bade­ten im Fluss. Zum Cot­ta­ge führ­te ein schma­ler unbe­fes­tig­ter Pfad. Das Haus war aus unbe­haue­nen Stei­nen gemau­ert. An die­sem Ort wuchs in mir Ruhe. Ich fass­te Ver­trau­en und emp­fand Nähe zur mich umge­ben­den Natur. Eines Tages leg­te am Ufer des Flus­ses ein Schlauch­boot an. mit ihm kam Alan (Ali) und blieb fast zwei Jah­re. Er hat­te in Glas­gow Kunst stu­diert, flog aber raus, als er tote Tie­re durch die Tief­druck­pres­se dreh­te. Er igno­rier­te jede Form von Eigen­tum. Als Leo sah, wie Ali sein in Holz geschnitz­tes Por­trait in der Feu­er­stel­le ver­heiz­te, unse­re Kla­mot­ten anzog, unser Geld aus­gab und ich weiß nicht was mit Werk­zeug und ande­ren Din­gen mach­te, zog er aus und begann in Deutsch­land ein Stu­di­um. Ich selbst habe sehr viel von Ali gelernt. Ali und ich waren die ein­zi­gen Mit­glie­der der Bern­hard Bru­der­schaft. Wir trie­ben unse­re Groß­vieh­ein­heit Scha­fe durch eine Öff­nung im auf der Wei­de ste­hen­den roten Schrank in eine ande­re Welt. In einer insze­nier­ten Hoch­zeit vor dem Cot­ta­ge hei­ra­te­ten wir zwei eine Braut von einem über­le­bens­gro­ßen Pla­kat für Hoch­zeits­mo­de. Wir form­ten unse­ren Müll zu stum­men Mit­glie­dern der Bru­der­schaft. Und wir nah­men uns toter Scha­fe an, indem wir Ritua­le für ihre Beer­di­gung abhiel­ten. Ich fing also mit der Kunst an. Um die­se Zeit her­um ging ich nach Lime­rick. Dort fand ich in der ers­ten Freun­din ein über­sor­gen­vol­les iri­sches Mäd­chen und floh davor in die Lie­be zu einer deut­schen Urlau­be­rin. Der folg­te ich nach Bremen.

Bald stu­dier­te ich Kunst. Wäh­rend des Stu­di­ums ent­wi­ckel­te ich die Grund­la­gen der Bota­ni­schen Pra­xis. In der Erwar­tung, noch ein­mal zum Ursprung mei­ner Lei­den­schaft für Gewäch­se zurück­zu­kom­men, ging ich für ein vier­tel Jahr in thai­län­di­sche Natio­nal­parks. Nach kur­zer Zeit begann ich mich im Regen­wald wohl zu füh­len. Ich kam zurück zum Zustand mei­ner anfäng­li­chen Lei­den­schaft. Ich schöpf­te erneut Ruhe und Ver­trau­en durch die Nähe zur Natur, die mich anfangs so stark gemacht hat­te und aus der ich den Keim (core) für mei­ne Theo­rie der »Leben­di­gen Plas­tik« sowie die »Ent­wick­lung Zukünf­ti­ger Lebens­for­men« bildete.

»Bio­lo­gi­sche Pas­tik« habe ich seit 1998 ent­wi­ckelt. Es ist ein offe­nes Pro­jekt, das aus einer visu­el­len Pra­xis ent­stand, die immer fun­da­men­ta­le­re Fra­gen über das Leben auf­warf. Die ursprüng­li­che Idee stamm­te von Skiz­zen leben­di­ger Skulp­tu­ren, in denen die Mög­lich­keit zukünf­ti­ger Lebens­for­men erforscht wur­de. In die­sen Stu­di­en galt mein Inter­es­se der Schaf­fung von Lebens­for­men, nicht von spe­zi­fi­schem Nut­zen son­dern als Teil einer gro­ßen evo­lu­tio­nä­ren Stra­te­gie. »Bio­lo­gi­sche Plas­tik« ist ein lau­fen­des For­schungs- und Ent­wick­lungs­pro­jekt über das theo­re­ti­sche und prak­ti­sche Poten­ti­al von Bio­lo­gie und Mikro­bio­lo­gie als Medi­um künst­le­ri­schen Aus­drucks. Das Pro­jekt »Bio­lo­gi­sche Plas­tik« basiert auf dem Gedan­ken, dass mit der Bio­lo­gie ver­wand­te Tech­no­lo­gien eine dra­ma­ti­sche Wir­kung auf den Fort­gang der Evo­lu­ti­on haben wer­den. Dar­über hin­aus erwei­tert die­ses Pro­jekt das Feld künst­le­ri­scher Aus­drucks­for­men und sucht eine neue Ver­bin­dung zwi­schen Kunst und Gesellschaft. 

Die Sur­rea­lis­ten begrüß­ten die radi­ka­len Kom­mu­nis­ten, die Futu­ris­ten applau­dier­ten dem Krieg der Faschis­ten. Bei­de Phä­no­me­ne hat­ten sich das Ver­spre­chen eines neu­en Anfangs auf die Fah­nen gehef­tet. Die gegen­wär­ti­gen Revo­lu­tio­nen im Feld der Bio­lo­gie bie­ten der Kunst, die sich gera­de in einer Sack­gas­se befin­det, die Mög­lich­keit einer radi­ka­len Ver­än­de­rung. Die ästhe­tisch-bio­lo­gi­sche ®evo­lu­ti­on wird zu einer fun­da­men­ta­len Neu­struk­tu­rie­rung des Lebens füh­ren. Men­schen wer­den kei­ne Men­schen mehr sein. Die Phy­lo­ge­ne­se, aus der bis­her Men­schen ent­stan­den, wird in Zukunft alle mög­li­chen Wesens­ar­ten her­vor­brin­gen. Und sie gibt Hoff­nung auf eine bes­se­re Zukunft.

Bio­lo­gi­sche Tech­no­lo­gien wer­den bald einen dra­ma­ti­schen Effekt auf die Kunst haben. Bis­her setzt die Kunst sich aus Gebie­ten wie Male­rei, Bild­haue­rei, Foto­gra­fie, Per­for­mance, Lite­ra­tur und Medi­en­kunst zusam­men. Mit der Bio­lo­gi­schen Plas­tik ent­steht eine völ­lig neue Aus­drucks­wei­se. Sie wird zum Pro­jekt »Leben­di­ger Kunst« oder »Bio­lo­gi­scher Skulp­tur«. Daher müs­sen Wis­sen­schaft­ler und Künst­ler auf engs­te Wei­se zusam­men­ar­bei­ten, um neue Zie­le und ernst­haf­te Sze­na­ri­en für neue Lebens­for­men zu entwickeln. 

Die gro­ße Men­ge an bio­lo­gi­schem Wis­sen und Pro­zes­sen wird mit Hil­fe der digi­ta­len Revo­lu­ti­on eine Zukunft erzeu­gen, die sich von allem, was die Mensch­heit bis­her erlebt habt, radi­kal unter­schei­den. Unser sozia­les und phi­lo­so­phi­sches Ver­ständ­nis von uns selbst und von unse­rer Umwelt wird sich kom­plett ver­än­dern und, dar­über hin­aus, wird mög­li­cher­wei­se ein völ­lig neu­er Phä­no­typ (die mensch­li­che Erschei­nungs­form) entstehen.

Die Zunah­me höhe­rer Orga­nis­men in der prä­na­ta­len Pha­se eröff­net die Mög­lich­keit, über indi­vi­du­el­les Leben hin­aus zu gelan­gen. Der zukünf­ti­ge Mensch wird in der Lage sein, die Gren­zen sei­ner Indi­vi­dua­li­tät zu über­schrei­ten und es wird ihm mög­lich sein, mit ande­ren Orga­nis­men zu ver­schmel­zen, um dadurch zu einem Teil des Lebens­stroms zu wer­den. Hat man sich mit ande­ren Lebe­we­sen ver­bun­den, wird man nie mehr in das Sta­di­um des ent­frem­de­ten auto­no­men Ichs zurück­keh­ren. Jeder wird frei ent­schei­den kön­nen, ob er in Abge­schie­den­heit oder ver­schmol­zen mit ande­ren leben will. Die Ver­än­de­rung der Natur wird ein völ­lig neu­es Ver­ständ­nis vom Men­schen hervorbringen.