Erkundungen zum Werk Reiner Maria Matysiks
Marc Wrasse
Es versteht sich, dass die Aufhebung der Entfremdung immer von der Entfremdung aus geschieht, welche die herrschende Macht ist, in Deutschland das Selbstbewusstsein, in Frankreich die Gleichheit, in England das praktische Bedürfnis. — Karl Marx
Ungeheuerlich ist das Leben. Ungeheuerlich seine Vielfalt, sein Erfindungsreichtum, die Komplexität und der Selbstbehauptungswille seiner Formen. Ungeheuerlich sein langer verschlungener Weg durch die Zeit. Ungeheuerlich auch seine moralische Qualität. Denn anders, als das wortlose Glück, bloß dazusein und wahrzunehmen, es möchte, ist Leben als solches noch kein gutes.
Ungeheuerlich also die Erkenntnis: was uns trägt, ist zwiespältig. Das Leben ist gleichgültig gegenüber der Vielfalt seiner Erscheinungen. Die Sonne, leblose Bedingung irdischen Lebens, scheint Guten wie Bösen. So lebt auch das Böse. Kein menschliches Leben ohne die Erfahrung dieser Negativität: dass anderes Leben es bedroht. Gewalt eignet dem Zusammenhang allen Lebens und während kein einzelnes wäre ohne ein anderes, ist es immer auch das andere gewesen, das dem einzelnen zur Gefahr wird. Damit scheint ins Leben selber eine Entfremdung eingezogen, die neben die Freude daran den Argwohn setzt, es sei nicht umstandslos zu bejahen. Anders als die marxistische Hoffnung unterstellt, ist es nicht erst die falsche Einrichtung der Gesellschaft, die einzelnes verstümmelt und an seiner Entfaltung hindert, sondern der Zusammenhang eines Lebens, das sich selbst nur erhält, indem anderes vergeht.
Schon der biblische Text, der die Zivilisation Europas seit zwei Jahrtausenden prägt, ein Buch, das mit zwei Erzählungen über die Schöpfung beginnt, erinnert eingangs diese prekäre Differenz. Während im ersten Bericht der Mensch am sechsten Tag in den Kreis des Geschaffenen tritt, ist nach dem zweiten paradiesisch nicht die Schöpfung überhaupt, sondern nur der Garten, den Gott »in Eden gegen Osten« pflanzt und den zu bebauen und zu bewahren er dem Menschen aufgibt. Das gedeihliche Leben bildet nur einen Teil des Seienden und, wie die anschließende Geschichte vom Sündenfall erzählt, erweist es sich selber, und nicht nur das, wovon es sich abhebt, sogleich als problematisches.
Und wie am Anfang der Bibel von zweierlei Schöpfung die Rede ist, so tritt vor zwei Jahrtausenden die biblische Religion in zwei Kulturen auseinander: das rabbinische Judentum bildet den Gedanken aus, mit dem Talmud einen Zaun um die Torah zu ziehen, um sie zu hegen und zu bebauen wie einen umgrenzten Garten. Das Christentum wird während seines Siegeszugs durch die Jahrhunderte als römisches imperial und mit dem Zeitalter der Renaissance und ihren Weltfahrten dann zur religiösen Rechtfertigung des globalen Zugriffs. Der gewaltsame Zug, der dem Selbstbehauptungswillen individuellen Lebens entspringt, entfaltet sich als zivilisierter zur totalitären Ideologie. Es ist dieses Erbe, das im missionarischen Impuls der westlichen Zivilisation bis heute fortwirkt. Wieso sollten nomadische Stämme Afrikas oder indianische Kulturen in Südamerika so leben wie wir? Wieso formuliert unsere Gesellschaft eine Genetik, wieso entwickelt sie eine Gen-Technik, ohne einen eindeutigen Begriff vom Leben zu haben? Glaubt sie etwas verbessern zu können, das a principio zwiespältig ist? Wieso verlieren wir uns in einer Praxis ohne stimmige Theorie?
Menschliche Wahrnehmung bildet Erzählungen aus, um den Zwiespalt zwischen der Stärke des Lebens und der Ohnmacht des Einzelnen zu beschwichtigen. Kultur und Tradition stiften einen Verbund, über den die Selbsterhaltung der Art dauerhaft organisiert und von den Wechselfällen der Natur emanzipiert werden soll. Über Sprache und Schrift wird die stumme Gewalt evolutionärer Entwicklung gedeutet und die Kraft des Lebens dienstbar gemacht. Im Fortgang der Geschichte heben sich schließlich einzelne Gestalten aus dem Kreislauf der Wesen heraus, benannt und als Vorfahren erinnert. Von allen Kulturen hat schließlich die europäische am deutlichsten den Gedanken vom einzigartigen Wert individuellen Lebens ausgebildet. Wo es sich bewusst wird, erlebt es sich fragil und vergänglich und den Ansprüchen anderer ausgesetzt. Die Aufhebung der eigenen, inneren Fremdheit, begründet in der Zwiespältigkeit dieses Lebens, sollte im Europa der Neuzeit durch Vernunft bewirkt werde. Vernunft sollte Natur und Geschichte so ins Werk setzen, dass alle Negativität schwindet.
Jeder Kultur scheint programmatisch der Wille eingeschrieben, Zufall und Begrenzung zu überwinden. Aber nur ein als Geist identifiziertes Leben imaginiert sich als absolutes. Von Beginn an war keine Kultur ohne das Phantasma von Ewigkeit. Was in Jahrhunderten ihrer theologischen Reflexion Gott zugeschrieben wurde – Absolutheit, Allmacht, Allwissenheit – entdeckt das Selbstbewusstsein des Menschen allmählich als Bestimmungen systematisch entwickelter Geistigkeit. Sie verdankt sich der Fähigkeit zur Abstraktion und lebt in einem Königreich von Zeichen, die selbstreferentiell Unendlichkeit generieren. Wahn, so heißt es dann in einem zentralen Buch des 20. Jahrhunderts, ist der Schatten von Erkenntnis.1
Die religiöse Utopie eines ewigen Lebens, nichts anderes als der auf Unendlichkeit gestellte Wunsch jedes einzelnen Lebendigen, wird technisch im zeitgenössischen Projekt der genetischen Beherrschung von Alter und Tod in Angriff genommen. Dabei ist in Wirklichkeit das Leben nicht nur von seinem biologischen Ursprung her zwiespältig, sondern auch in dessen Widerspiel als geistiges. Gut ist weder die blosse Vielfalt der Arten, noch irgendein Ganzes von Kultur: jede, die wir kennen, trägt in ihrer inneren Verfassung auch die Gewalt, gegen deren Übermacht sie entstanden ist und keine entfaltet sich ohne Phantasmagorien ihrer Omnipotenz. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht das Gleichgewicht der Kräfte wie nie zuvor auf dem Spiel. Während seit dem europäischen 18. Jahrhundert die Gestaltung der Welt als Debatte um die beste aller Gesellschaften geführt wurde: ständisch oder bürgerlich, monarchisch oder parlamentarisch, kapitalistisch oder sozialistisch, während bis vor kurzem Politik Glück oder Unglück menschlichen Lebens zu gestalten schien, sind inzwischen Belastbarkeit und Stabilität des Ökosystems Erde das Maß, an dem sich Geschichte und die Überlebensfähigkeit ganz unterschiedlicher Kulturen entscheiden werden. Durch die über-natürliche Vermehrung der Spezies Mensch werden natürliche Kreisläufe in ihrer Endlichkeit sichtbar. Öko-logische Ressourcen sind begrenzt; Phantasie hat ihr Wesen darin, Grenzen zu überschreiten. Marktwirtschaft als global etablierte Form von Ökonomie ist in verschiedenen Gesellschaftssystemen möglich, die miteinander ein Auskommen finden müssen angesichts von Fragen, die nicht mehr nur gesellschaftliche sind. Auf welche soziale Form hin Zivilisation sich entwickelt, wird wesentlich von ihrer Fähigkeit abhängen, sich zu regenerieren. War es seit dem Zeitalter der Revolutionen der Wille von Menschen und die Mobilisierung ihrer Träume, welche die Dynamik von Geschichte bestimmt haben, so wird es in der kommenden Epoche darum gehen, einen Ausgleich zu finden mit dem, was sich nicht empören kann und keine Träume hat. Zukunft scheint denkbar nurmehr als Dialog mit einer schweigenden Natur.
Der folgende Aufsatz versucht, die Arbeiten Reiner Maria Matysiks vor dem Hintergrund dieser veränderten Stellung des Menschen zur Welt wahrzunehmen. Unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, die Folgen unserer Herstellungskraft zu überblicken. Theorie und Praxis sind kategorial geschiedene Bereiche menschlichen Daseins. Ihre Einheit ist ein Wunsch, dem sich die Wirklichkeit entzieht. Für die Bestimmung des Zusammenhangs, in den Natur und Kultur mit der Entstehung menschlicher Lebensformen eintreten, ist das Nachdenken darüber aufschlussreich, wie sich jeweils das eine im anderen spiegelt. Ihr tertium comparationis bildet das Verhältnis, das sie innerhalb ihrer eigenen Sphäre zur Gewalt ausbilden, die als die ihres Gegenübers gilt – sei es im kulturellen Anspruch gegenüber der Erbarmungslosigkeit von Natur, sei es im Schutzbedürfnis ökologischer Zusammenhänge gegenüber einem maßlosen Ausgreifen von Technik und Zivilisation durch die ins Werk gesetzte Phantasie des Menschen.
Im folgenden werden die Begriffe Natur, Kunst, Gesellschaft in drei Abschnitten umkreist, um die Konstellation zu erfassen, in denen die Objekte des Künstlers als »Prototypen postevolutionärer Lebensformen« ihre Wirkung entfalten. Der Text versucht, die Sternzeichen eines neuen Himmels auf einer neuen Erde lesbar zu machen, um den Horizont zu skizzieren, vor dem unsere Geschichte zukünftig spielt. Auch wenn man vorsichtig sein sollte mit der Behauptung, es ginge dabei um alles oder nichts: Zukunft oder Ende, so geht es doch zumindest darum, ob das, was wir bisher gewesen sind, Menschen, sich noch in dem wird erkennen können, was kommen wird. Ist die Zukunft die, von der unsere Vergangenheit geträumt hat? Und welcherart waren diese Träume?
Natur
Das Wort Natur bezeichnet einen Zusammenhang im Ganzen. Wer von Natur redet, zielt auf ein Allgemeines und seine prägende Kraft auf das Besondere. Natur erzwingt Anpassung. Dabei begegnet sie uns zunächst doppelt: zum einen meint ihr Begriff »die uns umgebende Welt in ihren gesetzmäßigen Veränderungen und mit ihrem gesamten Inhalt, namentlich soweit sie dem Einfluß des Menschen noch unverändert gegenübersteht, daher auch im Gegensatz zur Kultur oder Kunst gebraucht«.2 Zum anderen ist Natur das, was wir – auch – selber sind. Insofern unsere innere Natur bei der Bestimmung dessen, was als Natur gedacht wird, mitspielt, scheint ihre allgemeine Definition schwierig.
Von Interesse auch jenseits instrumenteller Objektivierung ist Natur, wo sie mit dem vermittelt wird, was ihren unveränderlichen Gesetzen scheinbar gegenübersteht: mit Geschichte. So sind Erdgeschichte, die Geschichte einer Landschaft, die Entwicklung der menschlichen Natur oder die der Naturwissenschaften Perspektiven, in denen Natur nicht als das andere von Kultur auftritt, sondern als ein Bereich, dessen Objektivität offen ist: Naturgesetze verändern sich nicht, aber als Prozess hat Natur Zukunft.
Seit Darwins Arbeit Über die Entstehung der Arten lässt sich die Geschichte, als die sich Natur vollzieht, nicht mehr mit Bezug auf etwas denken, das außerhalb von Natur läge und ihre Entwicklung vorzeichnet, wie etwa eine entlegene göttliche Vernunft. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass, anders als in Darwins teleologischer Perspektive des survival of the fittest, auch in der biologischen Evolution eine naturgesetzlich festgelegte Dynamik sich mit geschichtlicher Kontingenz verbindet – Natur als System zu denken, wäre noch darwinistisch, ihre Zukunft aber als so offen und unbestimmbar zu sehen wie die von Zivilisation, ist eine Einsicht, die erst mit dem Vordringen in mikrophysikalische und molekulargenetische Bereiche möglich war, wo spontanen Veränderungen eine ähnliche Bedeutung zukommt wie physikalisch vorhersehbaren Reaktionsweisen. Gott würfelt doch: sonst gäbe es den Menschen nicht oder es gäbe ihn viel häufiger im Universum. Selbst die Erdalter, die Geschichte der belebten Natur, sind in Abfolge und Dynamik wesentlich geprägt worden von zufälligen Katastrophen kosmischer und terrestrischer »Natur«. Allen empirischen Erfahrungen zum Trotz ist Unwahrscheinlichkeit das Merkmal des Lebens.
Je näher wir mithin den Geheimnissen der Natur kommen, desto ähnlicher wird sie uns. Dabei ist das, was als Natur galt, traditionell über die Abgrenzung zur Kultur begriffen worden. Natur gewann Kontur durch das, was ihr entgegengesetzt wurde. Natur war immer schon da, während Gemachtes seine Bestimmung vom Menschen erhielt – ohne, wie die Geschichte entgleister Technik zeigt, nur dieser Bestimmung zu folgen. Äußere Natur, von der Renaissance zunächst als komplexe Mechanik skizziert, war anders als innere, schöpferische Natur, natura naturans, Seele, die mit dem cartesischen Dualismus res cogitans / res extensa von Natürlichkeit getrennt wird und in der bürgerlichen Philosophie Europas unter dem Banner von Freiheit in eine Konzeption von Bewusstsein und Geist als Spiegel der Natur übergeht: ihr nur gegenüber. In der Neuzeit wird parallel dazu die Berufung auf Naturrecht kritischer Einwand gegen die traditionell theologische Rechtfertigung der europäischen Gesellschaftsordnung; innerhalb von Gesellschaft werden seit Rousseau Begriffe wie unnatürlich, gekünstelt, entfremdet verwendet, um unter Berufung auf Natur Zivilisation zu kritisieren. Im Nachdenken über Natur ging es mithin stets weniger um das, was sie objektiv ist, als darum, wie sie dem Menschen erscheint.
Alle traditionellen Perspektiven auf Natur werden fragwürdig, wie G. Böhme ausgeführt hat3, wo die Abgrenzungen, die ihnen zugrunde liegen, nicht mehr plausibel sind. Es ist inzwischen offensichtlich, dass Kultur nicht als Insel auf einer Oberfläche von Natur existiert, sondern immer schon und immer globaler Natur, innere wie äußere, prägt. Umgekehrt erweist sich Kultur selbst als wesentlich von den natürlichen Grundlagen ihrer Reproduktion bestimmt. Deren Organisation als die menschlicher Arbeit an und mit Natur verleihen gesellschaftlicher Ordnung ihre historisch veränderliche Gestalt. Naturwissenschaft, die Wechselwirkungen innerhalb der Natur erforscht, erklärt infolge ihrer Spezialisierung nur noch Ausschnitte von Natur, nicht sie im Ganzen. In Allianz mit technischer Kompetenz will sie nicht mehr »das Wesen« von Natur erkennen, sondern untersucht ihr Potential: dabei erscheint mit den wissenschaftlichen Paradigmenwechsel eine Natur verschieden, die wesentlich nicht anders, sondern durch die wechselnden Optik von Apparaturen nur anders dargestellt wird. Das fragile Ökosystem Erde im Großen und unsere opake Leiblichkeit im einzelnen lassen sich, wie das Bedürfnis nach Alternativen in Technik und Medizin zeigt, nicht objektiv beherrschen.
Die Geschichte der Psychologie und die der Erkenntnistheorie machen deutlich, dass Geist und Denken und mithin auch ihre methodische Objektivierung als Wissenschaft nur unzureichend und in ihrer allgemeinen, also gesellschaftlichen Bedeutung überhaupt nicht verstanden werden, wenn man sie als autonom von der Natur ihres Trägers, dem Menschen, begreift. Auch wurde im Kontext der Naturspekulation bis hin zur Philosophie Ernst Blochs immer gewußt, dass der utopische Horizont des Menschen, seine Offenheit auf Zukunft, nichts rein Geistiges ist, sondern eine materielle Basis in den spielerischen Regungen natürlicher Impulse hat, sei es in den tastenden Experimenten der Evolution, sei es in der Freiheit sexueller Praxis. Natur als »das Gegebene« ist an sich selbst durch und durch geworden und die Teleologie, die ihrer Entwicklung eingeschrieben scheint, in Wahrheit von Vorstellungen geprägt, die auf Theologie, Ontologie und Metaphysik: auf Konzepte menschlicher Einbildungskraft verweisen. Natur ist offener, mehr von Zufall und Variation bestimmt, als systemtheoretische Entwürfe von Zweck und Funktionalität das unterstellen.4
Schon ein kursorischer Blick offenbart also, dass in der Rede von Natur vor allem ein Selbstverhältnis zur Darstellung kommt, einzeln wir kollektiv. Natur figuriert darin sowohl als Gegenstand von Herrschaft: im Interesse ihrer instrumentellen Handhabbarkeit, wie als Ressource von Glück. Ihre Selbstverständlichkeit ist die alternativlose Alternative zur schattenlosen Präsenz gesellschaftlicher Ansprüche. Schon im alltäglichen Schlaf, den die Natur uns schenkt, bezeugt sich eine periodisch wiederkehrende Distanz, die wir in uns tragen und offensichtlich brauchen, um Mensch erst zu werden, nachdem wir im Reich der Natur uns von uns und unsresgleichen erholen konnten.
Natürlicher Austausch, Stoffwechsel, Atmung ist die einfachste Form des Beisichseins. Der Zwiespalt, als der uns der Kreislauf des Lebens im Ganzen bewusst wird, gilt nicht für den zuverlässigen Rhythmus des Herzschlags, begleitet von der stillen Freude des einzelnen, am Leben zu sein. Pflanzen und Tiere wissen nichts vom Verhängnis, das Natur als Zusammenhang von Werden und Vergehen ist: sie sind, wenn auch gefährdet und wie alles Lebendige stets nur vorläufig. Die Verteidigung des dunklen, sich unbewussten Lebens bildet den Ausgangspunkt jedes guten Lebens: deswegen ist Natur zu achten. Sie wird, solange wir Körper haben und uns nicht nur über Bildschirme in zweidimensionalen Welten bewegen, immer eine Größe sein, auf die unsere Vorstellung von Glück sich bezieht.
Wenn Natur aber keine ontologisch fixierbare Größe mehr ist, offenbart sich ihre Gestalt perspektivisch: im Hinblick auf die argumentative Rechtfertigung dieser oder jener Unterscheidung. Was Natur ist, wird diskursiv entschieden: innerhalb von Sprache und Kultur ist der Bezug auf sie relativ. An sich selber ist sie der Zusammenhang im Ganzen, der das einzelne prägt. Natur gewinnt Prägnanz in der Figur des Diskurses, in dem sie in Anschlag gebracht wird. Ihr Begriff verdankt sich der Fähigkeit zur Abstraktion von ihren Erscheinungen.
Mit der Verdichtung gesellschaftlichen Lebens und der Loslösung der Arbeit vom unmittelbaren natürlichen Lebensraum wurde Natur im Abendland ästhetische Ressource, als Idylle schon seit der Antike zur Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem anderen Dasein. Mit dem Zeitalter der Industrialisierung verliert sie die Selbstverständlichkeit, die sie für alle Generationen davor gewesen ist. Ein verklärender Blick auf das Naturschöne als Maß für soziale Ordnung ist dem entwickelten Problembewusstsein von Zivilisation inzwischen vergangen – zumindest im Kontext des Allgemeinen: erlebte Sonnenuntergänge bleiben schön, auch wenn sie als Bild endlos reproduziert werden. Das Nachdenken über Natur reflektiert zunächst auf die Stellung des Kollektivs und erst von dort aus auf die des Einzelnen zu ihr. Es sind dabei nicht allein die unübersehbaren technischen Möglichkeiten, die uns ihr Verständnis ins Offene entgleiten lassen. Das technisches Potential des Menschen spiegelt nur materiell sein verändertes Selbstbewusstsein wider. Technik realisiert, was in Natur schon angelegt ist. Natur ist deswegen nicht mehr, was einfach ist, weil der Mensch sich selbst zur ruhelosen Größe geworden ist.
So entscheidet sich, was Natur ist und sein wird, auch nicht mehr allein im langsamen Rhythmus evolutionärer Entwicklung, sondern in der Gesellschaft: nicht, weil Natur ihr unverfügbares Ansichsein verloren hätte oder Gesellschaften etwas können, was noch vor zwei Generationen unvorstellbar war, sondern weil mit dem Ende einer verbindlichen Metaphysik der Verlust eines verbindlichen Verhältnisses zur Physis einhergeht. Es ist auch die Begegnung mit der irritierenden Offenheit menschlicher Natur zwischen Transsexualität und virtueller Befriedigung in artifiziellen Überwelten, welche das Nachdenken über sie neu provoziert. Der Schlüssel für das Verständnis von Natur überhaupt liegt, so scheint es, in dem von unserer eigenen Natur.
Vor dem Hintergrund dieser prekären Situation entwickelt sich die erwachende Potenz der Kultur zu ihrem gentechnischen Umbau. Menschlicher Geist erweist sich als Biomacht – in einer Tiefe und mit einem Ausgriff, der allem bisherigen Leben ungeheuerlich war. Die Macht, die Menschen inzwischen haben, hatten in den Märchen, Sagen und Erzählungen nur Götter und Teufel. Es ist nicht philosophische Kritik, die religiöse Traditionen ins Reich von Metaphern verweist, sondern das praktische Selbstbewußtsein der technischen Zivilisation.
Die Arbeiten Reiner Maria Matysiks sind ein Reflex auf diesen Umschlag im Verhältnis des Menschen zur Natur. Sie verdichten zum künstlerischen Ausdruck, was als diffuses Unbehagen die Gegenwart begleitet. Das Unbehagen entstammt dabei nur vordergründig der Frage nach der Beherrschbarkeit technischen Vermögens; in einer tieferen Schicht entspringt es der Spannung zwischen dem unmittelbarem Glück an Natur und der Einsicht in den Zusammenhang, den sie als Verhängnis ihren individuellen Emanationen gegenüber bildet. Die neue Qualität, die das alte Unbehagen gewinnt, ergibt sich mit der Tatsache, dass die Menschheit in Zukunft etwas verantworten muss, was kein einzelner Mensch verantworten kann: den programmatischen Eingriff in die dunkle Grundlage seiner selbst.
Die Objekte und Installationen der biologischen Plastik des Künstlers sind als Ausdruck und Darstellung dieses Selbstverhältnisses zu lesen. Die Unbestimmtheit, als die uns Natur im Horizont unserer Möglichkeiten erscheint, wiederholt sich in der Vieldeutigkeit seines Projekts. Die als postevolutionäre Lebensform ausgerufenen Plastiken sind ambivalent und verdichten unser gespaltenes Verhältnis zur Natur in einer zwiespältigen ästhetischen Geste: Was ihr Ausdruck an Sinnlichkeit, Lockung und Versprechen auf Erfüllung bereit hält, nimmt ihre Darstellung als Utopie eines Lebens, welches das menschliche Biotop überformt und ersetzt, mit kühlem Schrecken zurück. Die makellose Funktionalität ihres Daseins wird noch irritierender dadurch, dass sie in Hinblick auf menschliche Interessen keine funktionalen Wesen sind: sie verdauen nicht ausgelaufenes Öl noch absorbieren sie überflüssiges Kohlendioxid, sie produzieren nicht Nahrung unter widrigsten Umweltbedingungen noch bilden sie Eis, um etwa das Abschmelzen der Polkappen auszugleichen. Optimal angepasst sind eos cerifer und seine Artgenossen an eine Biosphäre, in der die Menschen ihr Selbstbewusstsein als Krone der Schöpfung an andere abgetreten haben.
Die Vitalität, die von Reiner Maria Matysik beschworen wird, ist allerdings nur scheinbar eine natürliche. Das Leben seiner Prototypen lebt ja gar nicht, sondern ist ein Produkt des Imaginären. Nur das ästhetisch verklärte Leben ist makellos. Sein Glanz entspringt der Vorstellungskraft des Künstlers, in der die Sehnsucht nach einer vollkommenen Natur wirkt, die im Ganzen so trägt und nährt, wie es ein jeder vom Kreislauf des Blutes im eigenen Körper gewohnt ist.
Natur als ganze wird in alle Zukunft unversehrt und endlos in stetem Wandel begriffen bleiben. Die vorstellbare Klimakatastrophe ist deshalb auch keine der Natur, sondern eine für die Menschen und zahllose andere Arten. Erst aus der Perspektive individuellen Lebens wird aus der trivialen Tatsache einer unendlichen Natur etwas Erhabenes: Leben muss zum Begriff abstrahiert und verallgemeinert werden, um der Hinfälligkeit des einzelnen Lebens zu entgehen. Genau dies geschieht in der künstlerischen Konzeptualisierung postevolutionärer Lebensformen. Sie stellen Strategien dar, um den Tod des einzelnen Exemplars zu überlisten, indem sie Vollkommenheit suggerieren. Der Künstler verwendet hier eine technische Utopie in der Maske von Natur: das Leben dieser Plastiken ist der Schein, der ihren Schöpfer erleuchtet und seinem Dasein einen übernatürlichen Glanz verleiht. Die ästhetische Modellierung postevolutionären Lebens präsentiert seine Exemplare als Fetisch.
Dabei entspringt das phantastische Moment des Projekts dem realen Ungenügen an der vorhandenen Natur. Im Wandel ihrer Wahrnehmung durch verschiedene Epochen und Gesellschaften hindurch haben sich zwei Momente erhalten: der Schrecken vor der Blindheit ihrer Gewalt und die Einsicht in die Unverfügbarkeit von Leben, das ist, ohne dass es sich ganz gehört. Unverfügbar ist Leben von Beginn an darin, dass es geprägt wird, bevor es als individuelles entsteht. Das hindert uns nicht, das einmal in die Welt getretene zu gestalten; Bildung und Erziehung modellieren auch innere Natur. Bisher konnte sich diese Arbeit als Dialog verstehen mit dem, was schon da war. Noch die jüngere Forderung von Nachhaltigkeit oder die nach ökologischer Stabilität stehen in der Tradition einer versuchten Balancierung zwischen dem, was die Erde uns gibt und dem, was wir ihr nehmen. Mit der Entzifferung des genetischen Bauplans jedoch entsteht eine neue Qualität im Verhältnis zur Natur: gefällt uns, was wir lesen können? Und wenn nicht: wer schreibt den Text des Lebens neu?
Vor dem Horizont solcher Möglichkeiten versagt die Orientierung an vorhandener Natur. Wir werden in Zukunft wohl entscheiden können, welche Natur wir wollen. Traditionell galt die Geometrie unserer Wünsche dem Kräftespiel des Sozialen; lange waren Einheit und Ordnung sein Ideal. Was bisher vor allem innerhalb von Gesellschaft verhandelt wurde, wird zukünftig auch die Gestalt von Natur insgesamt bestimmen: wer und wie wollen wir sein? Und wie zu dem, was nicht ist wie wir?
»Naturgemäß« bleibt die Entscheidung darüber – noch – von Generation zu Generation offen. Auch wird das technische Vermögen des Menschen allein sie nicht herbeiführen können. Technik ist keine Antwort auf die Fragen des Daseins, sondern Teil einer Strategie. Wohin sie führt, ist nicht der Natur, aber der Begegnung mit ihr zu entnehmen: an uns selbst. Die Antwort des Menschen vor dem Rätsel seines Daseins entspringt einer Einbildungskraft, die sich auf der Schwelle zwischen dem Unbewussten körperlicher Impulse und ihrer Objektivierung in Theorie und Praxis von Kultur immer neu entwirft. Da kein einzelner über das Vermögen verfügt, das zu handhaben, was durch die Arbeit vieler erst möglich wird, ist es die Verständigung über unsere kollektive Phantasie – Religion und Kultur – an der die Verbindlichkeit unseres Verhältnisses zur Natur sich darstellt.
Motor dieser Einbildungskraft ist die eingangs zitierte Gewalt des Zusammenhangs mitsamt der Verborgenheit, als die sie einzelnem Leben sich einprägt. Den Abstraktionsgrad solcher Erkenntnis mindert der Bezug auf die eigene Natur. So empfiehlt sich, für die Fragen im großen Orientierung im kleinen zu suchen. Das Verhältnis von Mann und Frau etwa, von Eltern zu Kindern, Jungen zu Alten, Schönen zu Hässlichen, Gesunden zu Kranken, Starken zu Schwachen, Unversehrten zu Behinderten wird uns zeigen, welcherart die Natur ist, die wir sein wollen. Jeder erfährt diese alternativen Weisen von Existenz an sich selbst.
Menschliches Dasein hat seine Würde und seinen Abgrund darin, dem Sinn zu verleihen, was von Natur aus sinnlos erscheint: das nicht reproduzierbare Glück des nur einmal gelebten Lebens in seinen verschiedenen Gestalten. Die Frage nach der Natur wird sich an der Achtung entscheiden, die wir aufbringen wollen für das, was schon ist und unwiederholbar vergeht. Nur wenn wir uns davon überzeugen können, dass es in seinen verschiedenen Gestalten nicht völlig unerträglich ist: weder Alter noch Krankheit noch Hässlichkeit noch Tod, werden wir den Willen aufbringen, das eine oder andere nicht zu tun. So wie wir schlafen müssen, um handeln zu können, braucht der Anspruch von Kultur die periodisch wiederkehrende Abwesenheit von sich selber. Natur wäre darin die Chiffre für einen Zusammenhang, der – wie Geschichte insgesamt in der geheimnisvollen Logik von Religion – vom Verhängnis zur Offenbarung wird: etwas, das uns gegeben ist, ohne seine Bedeutung allein vom Menschen zu empfangen.
Kunst
Kunst entsteht aus einer eigentümlichen Tätigkeit des Menschen. An möglichen Formen ist sie so vielfältig wie Natur. Dabei taugt ihr Begriff wenig zur Einschätzung der einzelnen Werke. Seine Prägnanz gewinnt er, wenn man ihn anderen menschlichen Tätigkeiten gegenüberstellt. Wer von Kunst redet, nennt die Freiheit, die ein einzelner Ausdruck allem anderen gegenüber gewinnen kann. Dass die Gewalt des Zusammenhangs, als die das Allgemeine dem Besonderen gegenübertritt, keine absolute ist, manifestiert sich im Kunstwerk.
Allgemein und allgemein bekannt ist die Macht der Gesellschaft gegenüber der Ohnmacht des Einzelnen vor ihren Tendenzen. Gleichwohl ist sie keine totale. Anders als im privaten Raum persönlicher Freiheit, in dem die Unverfügbarkeit von Natur ein ausgleichendes Refugium darstellt, reklamiert Kunst Öffentlichkeit. Sie will gesehen und besprochen werden. Kunstwerke sind keine Genussmittel, sondern rätselhaft körperliche Zeichen im öffentlichen Diskurs. Sie beziehen sich auf jenen überindividuellen Raum, in dem alle Lebewesen sich vorfinden und uns Welt heißt. Vor dem Horizont von Natur und Notwendigkeit betrachtet, sind Kunstwerke nutzlos und überflüssig.
Kunst bildet einen Riß in dieser Welt, die schon ist, und zeigt, dass sie noch einmal möglich ist: als eine andere, schönere, beglückende. Als eine hässlichere, entstellte, verkümmernde. Als die gleiche Welt, die jetzt schon ist, aber in Wirklichkeit anders, anders gesehen, verfasst, erlebt. Das Kunstwerk urteilt nicht darüber, ob die Welt gut ist oder schlecht, sondern zeigt sie und zeigt auch, dass sie Zukunft hat: dass etwas möglich ist, das nicht aus dem erwartet werden kann, was schon da ist. Selbst wenn es schon da ist, wird es durch das Kunstwerk so erst sichtbar: als bedeutsam. Als etwas, an dem die Freiheit ist, die im Kunstwerk am Werke ist.
»Kunst ist nicht, wie der Idealismus glauben machen wollte, Natur, aber will einlösen, was Natur verspricht«, schrieb noch vor einer Generation der Philosoph und Kunsttheoretiker Adorno.5 Was könnte das sein? Wem verspricht Natur was? Adornos Gedanke folgt einer Tradition, die den Zusammenhang des Lebendigen als Schöpfung und Verheißung begriffen hat. Als deren Selbstverständlichkeit verging, erbt die Kunst ihr Versprechen. Inzwischen scheint Tradition so gründlich ruiniert, dass auch Kunst sich nicht mehr selbstverständlich auf Glück, Erfüllung und Sinn festlegen lässt. Aber jedes wirkliche Kunstwerk überrascht. Kitsch, als Kunst, die um Haaresbreite keine geworden ist, überrascht nicht, sondern wiederholt. Kitsch evoziert ein Gefühl, das wir einmal schon hatten und so immer wieder haben wollen. Deswegen wird jede Kunst durch Vervielfältigung irgendwann zum Kitsch, selbst solche moderne, die serielle Wiederholung zur Bedingung ihrer eigenen Produktion gemacht hat. Auch die Arbeiten Andy Warhols, nicht nur die länger schon reproduzierten der Impressionisten, werden, beliebig vervielfacht, zum Kitsch.
Das Kunstwerk braucht, um sich als eines zu zeigen, den unverbrauchten Blick. Es erzeugt eine Verschiebung. Scheinbar verschiebt es durch seine Qualität schon Vorhandenes, bekannte Form, Farbe, Substanz. In Wirklichkeit verschiebt es unseren Blick auf das Vorhandene, ohne diese Wirkung nur suggestiv zu simulieren. Um den gewohnten Blick zu verschieben braucht es etwas, das außerhalb seiner und kein Kunstwerk ist. Das Kunstwerk behauptet eine eigene Welt, die ihre Substanz erst gewinnt an der, die schon da ist: das gilt sogar von gegenstandslosen Arbeiten, in denen die Spannung zwischen dem, was schon ist und seinem Reflex in abstrakter Nüchternheit sich steigert. Das Kunstwerk erzielt seine Wirkung, indem es sich die Welt leiht, um sie uns anders zurückzugeben. Sein Bezug zur Wirklichkeit unterscheidet es von der Illusion. Wo der Bezug fehlt, schrumpft es zum Idyll und fällt ganz und gar zusammen mit den Erwartungen seiner Betrachter. Die Welten des world wide web sind, obwohl durch und durch künstlich, keine Kunstwerke: sie funktionieren als Abziehbilder der Phantasmen ihrer Zuschauer. Sie überraschen, ohne zu irritieren, wie es immer schon, nur weniger perfekt und also mit geringerem Sog, die Sensationen der Jahrmärkte und Rummelplätze getan haben. Außerhalb ihres artifiziellen Universums bedeuten sie nichts.
Irritation ist eine Wirkung, die sich in der Begegnung mit dem Realen einstellt. Wirklich ist nicht allein die Welt um uns herum, wirklich sind wir auch selber. Aus der Differenz zwischen den Gesetzen, durch die sich die äußere Realität beschreiben lässt und denen, die für den Menschen und sein Innenleben gelten, ergibt sich die eigentümliche Stellung des homo sapiens sapiens in der Welt. Kunst wirft ein Licht auf die conditio humana: von innen.
Damit sind Kunstwerke objektiv, was subjektiv die menschliche Einbildungskraft kennzeichnet: präzise auf der Schwelle zwischen Innen und Außen. Sie sind nicht ohne das Auge ihres Betrachters: das wissen wir lesend, seit im frühen 19. Jahrhundert Bildung und Kunstkritik wesentlich für ihrer Wahrnehmung werden und wissen es sehend, seitdem Marcel Duchamp die Felge eines Fahrrads in einen New Yorker Ausstellungsraum gestellt hat und dieses bizarre Arrangement als Kunst begriffen wurde. Dennoch sind Kunstwerke welche nicht allein durch die Proklamation eines zufälligen Publikums: seit Kants Kritik der Urteilskraft argumentiert ästhetische Erfahrung mit einem objektiven Anspruch und nicht mit dem subjektiver Überwältigung durch schönen Schein. Kunst ist mehr als Empfindung. Das Kunstwerk benötigt Allgemeinheit, um eines zu sein. Diese Allgemeinheit ist von anderer Art als der Zusammenhang, den Natur bildet. Es ist die von Freiheit.
Kunst zeigt, dass Freiheit möglich ist: auch deswegen steht ihre Diskussion seit der Epoche Kants im Zusammenhang mit Erkenntnistheorie und Ethik. Sie zeigt es anders als deren politische Manifestation in Widerstand, Moralität, Recht und Gesetz: sie verleiht ihr einen sinnlichen Ausdruck. Geliebt wird die Kunst, nicht aber das Gesetz. Ebenfalls bei Kant wird Achtung als das Gefühl, die gleichsam einzige Form von Sinnlichkeit benannt, die wir moralischem Handeln gegenüber, in dem Freiheit sich behauptet, empfinden können. Achtung und Verachtung sind das, was Vernunft, die sonst nur urteilt, fühlen kann. Man liebt den Menschen, der vorbildlich und außergewöhnlich handelt, aber nicht seine Moral, die man achtet. Auch das Judentum, das den Willen zur Gehorsamkeit gegenüber dem Gesetz zum Inbegriff seiner religiösen Tradition gemacht hat, liebt nicht das Gesetz, sondern Gott und in Gott die Weisheit seines Schöpfers. Das Christentum liebt den, der das Gesetz überwunden hat: den rebellischen Sohn. Dieser Sohn ist nie Vater geworden: wäre das geschehen, hätte das Christentum eine andere Geschichte. Seine Dialektik, die Verschlungenheit von Liebe und Gewalt in der theologischen Konzeption des Christentums als Reich, folgt dem widersprüchlichen Gedanken, dass die Welt insgesamt eine andere werden muss, um Zukunft zu haben: post-evolutionär. Christliche Scheiterhaufen wurden errichtet, um die zu retten, die auf ihnen verbrannt worden sind. Als Paradoxon bezeugt sich die Vorstellung, dass Freiheit erst vollkommen wird, wo Natur und die hoffnungslose Gültigkeit ihrer Gesetze überwunden sind. Das Phantasma totaler Freiheit jedoch entspringt einer Vernunft ohne Gefühl. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte, dass die christliche Religion, die ein ganz unvernünftiges Erbarmen, die menschliche Regung schlechthin, über das Gesetz gestellt hat, ihrer eigenen Logik lange erbarmungslos folgen konnte: einem Sinn ohne Sinnlichkeit. Vielleicht auch deswegen und gleichsam kompensatorisch die wie nie zuvor entfesselte Kunst der barocken Christenheit: zur sinnlichen Beschwörung ihrer unsinnigen Botschaft von Herrschaft über die Welt, wo es nur ein Bündnis mit der Welt geben kann. Große Kunst lehrt am Beispiel des Barock, dass sie auch gegen die Intention ihrer Schöpfer wahrgenommen werden muss, um eine zu bleiben. Mit ihr empört sich eine widersprüchliche Natur gegen die konsequente des Verstandes – die Vieldeutigkeit der Sinne gegenüber der Eindeutigkeit von Macht. Die Freiheit, die in der Kunst sich bezeugt, ist konkret und begrenzt. Unendlich ist sie in der Tiefe ihres Ausdrucks.
Kunst hat mit natürlicher Evolution gemeinsam, dass sie etwas hervorbringt, was aus dem Vorhandenen so nicht zu erwarten war. Das qualitativ Andere, das sie mit jedem ihrer Werke setzt, bezieht sich dabei nicht auf den Zusammenhang des natürlichen Lebens. Während der qualitative Fortschritt von Naturgeschichte für das einzelne Exemplar wie für die Natur im ganzen ohne Belang ist, gleichsam uninteressant, ist das Neue in der Kunst zentral für ihr Dasein. Das bisher Ungesehene, das in jedem einzelnen Werk von Neuem einen Anspruch anmeldet, wirft sein Licht auf die Möglichkeiten von Gesellschaft – auf sie jenseits der Notwendigkeit von Selbsterhaltung. Freiheit, die in der Kunst sich artikuliert, thematisiert ihren Bezug auf Allgemeinheit: dass meine eigene ihr Wesen in der Freiheit des Anderen findet und an dieser nicht nur ihre Grenze hat. Kain war, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte, alleine, aber nicht frei. Als Kunst wird sinnfällig, was im Denken so leicht nicht zu zeigen ist: die Verwirklichung stets individueller Freiheit in und durch Gemeinschaft, Tradition, Überlieferung.
Durch den ihr immanenten Bezug auf Gesellschaft kommt der Kunst jeder Epoche eine eigentümliche Funktion zu. In den religiösen Jahrhunderten des Mittelalters repräsentiert sie autoritativ die Überzeugung vom göttlichen Grund der Dinge. Die Zeit der Renaissance emanzipiert sie in Architektur und Malerei zum repräsentativen Ausdruck menschlicher Gestaltungskraft und zur selbstbewussten Darstellung des durch Arbeit Erreichbaren. Mit ihrer Herkunft aus und dann der Lösung vom Handwerk erklärt und verklärt Kunst die weltbildenden Macht der bürgerlichen Gesellschaft und die von Einzelnen als autonomen Trägern von Herrschaft; parallel entfaltet sie im Barock noch einmal phantasmagorisch die allgemeine Herrlichkeit himmlischer Macht. In Romantik und früher Moderne werden innovative künstlerische Strategien zu einer Sprache, mit der die Tiefe des menschlichen Daseins ausgelotet wird; damit einher geht das Selbstverständnis der Künstler als Avantgarde, Zeugen einer Freiheit, die allgemein noch nicht erreicht war, aber im Spiegel der Kunst Verwirklichung reklamiert. Der Künstler des 19. Jahrhunderts ist weder Experte noch Profi, sondern Genie und der Genius, der ihn beseelt, ist libertär. Harmonie und Schönheit, klassischer Ausdruck für die sinnfällige Darstellung von Ordnung und Freiheit, dem balancierten Verhältnis des Einzelnen im Ganzen, werden mit dem Unbehagen an den Umbrüchen dieses 19. Jahrhunderts durch eine Ästhetik des Hässlichen, modern: des grotesk Absurden ergänzt, über die Kunst zunehmend in Distanz zu der Gesellschaft tritt, aus der heraus sie entsteht.
Ihre zunächst breite Verehrung in der Kunstreligion des europäischen Bürgertums, dann die verächtliche Absage an dessen Geschmack durch einander schnell ablösende Avantgarden und gegenwärtig die Inszenierung von Kunst als Event eines megalomanen Glücksversprechens, elitär und massenhaft zugleich, zeigen, obwohl Epochen voneinander geschieden, komplementär denselben Widerspruch: dass Kunst das Allgemeine, Freiheit, meint, aber nur als besondere zu haben ist, konkret und versehen mit dem schmerzhaften Mal realer Beschränkung. Was in Werbung und Konsum spielerisch durchgeht: die Meinung, dieses Automobil oder jenes Parfum akzentuiere bruchlos eine triumphierende Individualität, wirkt in ihr allenfalls grotesk. Auch große Kunst wird ephemer. Fremd tritt sie zuletzt ihrem Schöpfer gegenüber. Der in ihr selbst bewusst gewordene Protest gegen die eigenen uneinlösbaren Versprechen artikuliert sich mit der späten Moderne, noch im Bann des überkommenen Pathos, als radikale Geste von Verweigerung durch eine Ästhetik des Verschwindens: minimalistisch, abstrakt, zufällig. Kunstschaffen seither zersplittert und verzichtet auf den Anspruch aufs Ganze: schwer vorstellbar, dass zeitgenössische Kunst noch einmal einen Stilbegriff ausbildet, der wie in den Jahrhunderten zwischen Renaissance und Klassizismus die herausragenden Werke einer Epoche prägt und ihren Bezug aufeinander anspricht. Postmoderne als Etikett für die gegenwärtige Situation charakterisiert keine quer durch alle Gattungen repräsentative Haltung zum Material, sondern eine zum Bild, das die ernüchterte Moderne von sich selber hat. Schon für die wechselnden Spielarten von Moderne zwischen Impressionismus und Pop Art, Ready Made und Fluxus und darüber hinaus war Heterogenität das hervorstechende Merkmal.
Mit dem Scheitern der großen politischen Experimente des 20. Jahrhunderts und der Verselbständigung gesellschaftlicher Teilbereiche gemäß ihrer jeweiligen Eigenlogik – Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Religion – verliert auch Kunst ihre Eindeutigkeit. Wo Einheit, Harmonie und Ordnung nicht mehr als Begriffe taugen, um den Zusammenhang von allem plausibel darzustellen, macht auch Kunst sich lächerlich, die aufs Ganze zielt. Es ist nicht einmal mehr ausgemacht, dass sie überhaupt das Anliegen der Menschen vertritt. Unheimlich spiegelt sie die Unheimlichkeit dessen wieder, worin wir unser Leben haben. Sie ist, wie Gesellschaft insgesamt, seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein work in progress; ihr Wesen liegt, wie das der Gattung Mensch, vorläufig im Abenteuer. Was für die zeitgenössische Wahrnehmung überhaupt kennzeichnend ist, trifft auch für die Kunst zu: sie findet sich als eine in Parallelgesellschaften wieder. Die ihren einzelnen Gattungen immanenten Tendenzen schließen sich nicht mehr zum Gesamtkunstwerk einer Epoche zusammen.
Künstlerisch ist diese Entwicklung nur scheinbar ein Verlust.6 Zunächst hat sie die Kunst befreit: vom falschen Pathos und den Ansprüchen der Gattungsästhetik. Ihre Formensprache erobert neue Felder, nach Film und Fotografie den beweglichen Raum von Installation und Performance. Die Kombination verschiedener Kunstformen als mediales crossing unterläuft den fetischisierenden Glanz des einzelnen Objekts wie den formaler Zuspitzung: die Rede vom Ende der Malerei ist am Ende selber nur das einer bestimmten Auffassung von den Möglichkeiten der Gattung. Mit ihrer veränderten Stellung im Ganzen ergeben sich neue Perspektiven. Als bloße Anordnung wird Kunst bescheiden. Die Beliebigkeit ihres Materials bis hin zur Verwendung von Müll spiegelt die Explosion industrieller Produktivität und schafft absurde Räume. Ihr Durcheinander, weniger wahrnehmbar in der formalen Strenge von Einzelausstellungen, aber eklatant vor der künstlerischen Vielfalt auf Messen und Kunstschauen, ist das, in dem sich der einzelne gleichzeitig mit anderen einzelnen in unüberschaubar verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsmodellen vorfindet, die im Kreislauf globaler Marktwirtschaft miteinander kommunizieren. Die Vielfalt von Kunst überfordert, weil das Kleingruppenwesen Mensch sich mit der Hervorbringung einer Weltgesellschaft permanent selbst überfordert: wie verhält man sich adäquat vor den täglichen Nachrichten? So oder anders oder auch gar nicht. Der Prozess einer immer dichter werdenden Mannigfaltigkeit, auch im Innenraum von Zivilisation, ist weder aufzuhalten noch rückgängig zu machen: Komplexität kann allenfalls balanciert werden. Hegemoniale Ordnungsmodelle sind überholt. Gesucht wird ein rotierendes Gleichgewicht, ein vorläufiger Zwischenraum als bewegliche Mitte zwischen Implosion, Erstarrung, Rückzug, und Explosion, der bunt schillernden Gleichgültigkeit einer beziehungslosen Ausdehnung. Zerstreut, aber präzise arbeitet Kunst an der Ausbildung solcher Räume.
Befreit wird mit den Fliehkräften der gesellschaftlichen Entwicklung auch die Wahrnehmung von Kunst: Durch den formalen wie inhaltlichen Verlust an ästhetischer Verbindlichkeit reduziert sich der Geltungsanspruch avantgardistischer Konzepte zur (un)möglichen Geste: das Manifest als Performance. Zeitgenössische Kunst lässt sich nur selten aus der immanenten Konsequenz von Formgeschichte verstehen, anders als Adorno das wollte. Ob ein Werk vor dem Hintergrund der Kunstgeschichte aufleuchtet oder seine Qualität durch die Assoziationsketten der spontanen Deutung eines zufälligen Publikums entwickelt, verrät wenig über seinen künstlerischen Wert. Dessen Beschaffenheit wird sichtbar am Kontext, in dem die Rezeption von Kunst erfolgt: ihr kommunikatives Netz erst entfaltet Relevanz. Während die akademische Reflexion klangvolle Formeln findet, die außerhalb von Theorie selten Wirkung haben, können der Besuch einer Ausstellung oder das Gespräch über sie immer noch die Richtung eines Lebens ändern. Keiner braucht eine Zeile gelesen haben, um sich zu zeitgenössischer Kunst zu verhalten: wo das nötig ist, beschränkt es den Horizont des Werks, nicht den seines Betrachters. Als Äußerung individueller Kreativität ist Kunst radikal demokratisch; sie verlangt individuelle Stellungnahme. Wer will im Ernst sagen, dass die allgemeine Wahrnehmung über die Bedeutung des Besonderen entscheidet, wenn es darum nicht im allgemeinen geht, sondern hier und jetzt, in Beziehung zur so und nicht anders geprägten Existenz eines Einzelnen? Jede Stimme zählt: noch einmal von Neuem, jenseits von Tradition und Konvention. Ästhetische Theorie hat ihre majestätische Verbindlichkeit verloren; sie ist ohnehin ein nachträgliches Geschäft und wenig brauchbar für das Überraschende von Imagination. Deren Blaupause wird spät entziffert, am Horizont ihrer Wirkung.
Die Reichweite von Bedeutung bemisst sich an der Fähigkeit, mit der sie Resonanzen auszulösen vermag. Mit der Ambivalenz des Resonanzraums Gesellschaft etablieren sich künstlerische Strategien, welche die Vereinnahmung von Ästhetik und die Festlegung von Bedeutung unterlaufen wollen. Kunst wird hermetisch oder zieht in die Landschaft. Sie reagiert spröde mit der Hervorbringung von Werken, die sich ihrer Musealisierung entziehen, weil ihr Anliegen im Museum am falschen Ort ist oder dort nur dokumentiert werden kann. Künstlerische Präsenz verzichtet auf die Überwältigung durch Schönheit und inszeniert sich situativ. Der Preis, den die Kunst für ihre Freiheit entrichtet, ist die Ohnmacht vor der Bestimmung ihres objektiven Werts durch den Markt. Orchestriert werden dessen Mechanismen durch das Rauschen des Diskurses.
Naiv wäre die Forderung, es möge anders sein. Das Unbehagen, das diese Entwicklung gleichwohl begleitet, ergibt sich aus der Spannung zwischen der Einsicht, dass mit dieser Arbeit doch wohl ich gemeint bin, als einzelner über ihre Relevanz aber wenig zu befinden habe oder gar sie nicht einmal entziffern kann. Die objektive Form dieses Unbehagens ist die Resignation der Wahrnehmung von Kunst zur bloßen Nachricht über sie: das und das wird ausgestellt und so sieht es aus. Teuer.
Die Arbeiten Reiner Maria Matysiks sind keine Sensationen. Als Modelle postevolutionärer Lebensformen verweigern sie, was Natur im Zusammenhang von Massenästhetik leistet – sie erfüllen weder Bedürfnisse noch wecken sie Sehnsucht. Ihre Schönheit ist kalt: faszinierend über sexuelle Assoziationen im einzelnen, bizarr als Anordnung im ganzen. Ihre sinnliche Kraft an Farbigkeit und bildnerischer Vielfalt wird gebrochen durch die lexikalische Indizierung als wissenschaftliches Arrangement. Was uns Innen, an den Schleimhäuten gleichsam, berührt, stößt uns Außen, in der Reflexion auf den Abstraktionsgrad ihres Experimentierfeldes, in Ratlosigkeit zurück. Avantgardistisch verweigern sie den Anspruch klassischer Avantgarde, den auf ästhetische Immanenz durch ihre technizistische Etikettierung als Modell und im ganzen durch den Umstand, dass sie Schockierendes zeigen ohne zu schocken. Was wir sehen, ist unübersehbar sinnlich und zugleich sinnlich gar nicht zu erfassen. Verhandelbar wird die Abenteuerlichkeit dieser Konstellation, weil sie als Kunst auftritt: ihre Rezeption spielt im Kontext ästhetischer Wahrnehmung, spricht an, wo sich Körper unter Körpern befinden. So ist sie durch ihre paradoxale Sinnfälligkeit mehr als nur das Abbild einer politischen Problematik, über deren Bedeutung im Alltag unserer gesellschaftlichen Praxis Delegierte oder Experten zu befinden haben. Als Verschiebung dessen, was man nicht sieht: das Experiment am postevolutionären Mikroorganismus, tritt sie in den Raum einer Öffentlichkeit, deren Verhältnis zu Natur sie uneindeutig zum Thema macht. Die Signatur, die biologische Plastik und ihre Präsentation in Performance und Installation an ihrer Oberfläche tragen, ist die eines Rätsels. Wir schauen unsere Zukunft in Gestalt einer als Überlebenstechnik maskierten Groteske. Ham und Clov, die traurig fröhlichen Helden aus Samuel Becketts Fin de Partie, scheint es, sind mit den Objekten Reiner Maria Matysiks unter die Organismen gegangen.
Kunstnatur
Natur und Kunst, die eine immer schon gegeben, aber opak in ihrer Vieldeutigkeit zwischen Fäulnis und Blüte, die andere spielerische Entgegnung des Menschen auf sein absichtslos begonnenes Dasein und nicht minder rätselhaft, begegnen sich im Raum der Gesellschaft. In ihr kehrt Natur wieder: etwa als Bild, Garten oder Stofftier, Formgebilde, in denen Kultur ihr Verhältnis zu einer Natur auslotet, von der sie sich entfernt. Kultur selbst ist den Menschen eine zweite Natur, so selbstverständlich wie das Vorhandensein der ersten. Kunstnatur ist damit nicht nur die beschwörende Wiederholung von Natur in dem, was anders sein will als sie, sondern auch die Gesellschaft im ganzen: scheinbar natürlich, in Wirklichkeit gemacht. So lebt der Mensch, das animal sociale, mit zweierlei Natur. Folgt die erste im bio-logischen Stoffwechsel ihren eigenen Gesetzen, so stehen die der zweiten zumindest zur Debatte. In der erwachenden Begegnung mit den zunächst für selbstverständlich genommenen Bedingungen gesellschaftlichen Lebens wiederholt sich für die Jugend jeder Generation die Fremdheit, die wir von Natur aus schon an uns selber haben.
Diese Fremdheit erträglich zu machen, ist das Versprechen von Gesellschaft und Motor ihrer Entwicklung. Das als Rätsel über diesen Essay gestellte Zitat von Karl Marx benennt einen fundamentalen Zwiespalt und formuliert das moderne Programm seiner Überwindung. Im ungeheuer fortschrittlichen 19. Jahrhundert soll ein nicht mehr religiös zu beschwichtigendes Elend durch kollektive Anstrengung beseitigt werden: der moderne Mensch begreift sich selbst als Autor seines Lebens. Das Bewusstsein der Freiheit in deutscher Philosophie, die politisch revolutionäre Praxis in Frankreich, der wirtschaftliche Fortschritt in England sind das Arsenal, mit dem er der Fragwürdigkeit seiner Existenz zu Leibe rückt. Während für Marx in der nationalstaatlichen Perspektive der Epoche die »herrschende Macht« sich als Ideologie, repressive Politik und Klassenökonomie manifestiert, ist es heute die in keinem gesellschaftlichen Bereich wegzudenkende der Technik, die quer zu allen Staaten und Gesellschaftsformen die Hoffnung auf Fortschritt grundiert.
Mit der Vision einer technischen Überwindung der Ohnmacht von Leben im zeitgenössischen Gewand biologischer Manipulation spielen auch die Arbeiten R.M. Matysiks. Gäbe man etwas auf die Zukunftsfähigkeit dialektischen Denkens, so müsste die Macht von Technik technologisch beherrschbar sein und das Medium von Freiheit. Wohl zweifelt kaum jemand daran, dass selbst solche Probleme, die erst die technische Zivilisation schafft, gelegentlich durch bessere Technik gelöst werden können, aber die »Aufhebung der Entfremdung« wird technisch nicht zu leisten sein. Der Grund dafür liegt weder in den Grenzen des Wachstums noch in der vorläufigen Unvollkommenheit technischer Errungenschaften, sondern in der Tatsache, dass die Natur des Menschen eine doppelte ist, in sich wesentlich verschieden und doch rätselhaft verschränkt. Die Technifizierung der Phantasie in Film und virtueller Realität etwa kann die Befriedigung von Bedürfnissen zwar simulieren, aber den Abgrund nicht schließen, der zwischen erster und zweiter Natur klafft. Gesellschaften bleiben fragil, solange sie aus dem Substrat einer Materie heraus entstehen, die sich ihrem Verlangen nicht fügt. Die Logik der Zeichen ist nicht die Logik der Dinge.
Die Qualität einer kulturellen Überlieferung erweist sich auch darin, dass sie noch etwas zu sagen hat, wenn die Selbstverständlichkeit ihrer Bedeutung längst vergangen ist. Von Marx und der Hoffnung seines zukunftsfrohen Jahrhunderts trennt uns, noch vor der Auseinandersetzung mit seiner Auffassung zur Dynamik von Geschichte, das Vertrauen, mit dem sein Zitat anhebt: »Es versteht sich« eben nicht mehr, dass Wissenschaft, Politik und Ökonomie das Unbehagen in der Kultur, in dem das an der eigenen Existenz sich wiederholt, grundsätzlich beseitigen können. Es spricht für den Realitätsgehalt marxistischen Denkens, dass es die Organe von Zivilisation schon als Formen einer Entfremdung begreift, die durch keine naive Identifikation mit angebotenen Erfolgsmodellen aufzulösen ist. Für Marx und seine Zeit war Natur ein unendliches Reservoir immerwährender Möglichkeiten, von dem die Sphäre bewussten Lebens so kategorial geschieden ist, dass es potentiell frei darüber verfügen kann. Zwar bleibt Gewalt auch hier latent vorhanden, ist Gesellschaft doch, nach der schlagenden Definition Alfred Sohn-Rethels, »ein Zusammenhang von Menschen in bezug auf ihr Dasein, und zwar in der Ebene, in der ein Stück Brot, das einer isst, den anderen nicht satt macht«. Die marxistische Utopie aber entfaltet sich mit der Überzeugung, dass die Wiederkehr eines naturwüchsigen Selbstbehauptungswillens auf der Ebene von Gesellschaft durch die Produktion von genügend Brot überwunden werden kann.
Gegen die bodenlose Kränkung des menschlichen Selbstbewußtseins durch die nicht zu verleugnende Einsicht in die abgründige Verfassung unseres Daseins hilft jedoch nicht einmal Kuchen. Menschliche Gesellschaften haben nicht nur materielle Ansprüche: der Riß, der von Beginn an die gesellschaftliche Produktion von Utopien erzeugt, ist noch von anderer Qualität, als der durch die Permanenz von Gewalt auf der Ebene von Natur, auch wenn es die Erfahrung dieser Gewalt ist, die seine Überwindung motiviert. Er bildet sich aus mit der Ordnung des Symbolischen, das anderen Gesetzen gehorcht als das Verlangen einer sprachlosen Natur auf Selbsterhaltung. Gesellschaft entsteht zugleich mit der differenzierenden Organisation von Arbeit, die es schon in Ameisenhaufen gibt, aus der Verständigung ihrer Mitglieder über die Art und Weise ihres Daseins in der Welt. Der kommunikativ und also symbolisch vermittelte Blick auf Natur gehört zur Grundlage des Humanen: nicht nur in praktischer Hinsicht in bezug auf den Umgang mit ihr innerhalb von Gesellschaft – Nahrung, Baustoff, Nachwuchs – sondern zunächst in der Entscheidung darüber, was sie uns bedeutet. Umwelt ist so der Mensch zuallererst sich selber: deswegen bleibt sein Begriff ungreifbar innerhalb einer Theorie sozialer Systeme, ohne dass wir aufhören könnten, über uns – mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit – nachzudenken. Die Zukunft der Natur, mit der wir leben, liegt seit dem globalen Ausgriff von Zivilisation im Sozialen. Die Zukunft von Gesellschaft liegt in ihrer Fähigkeit, Reservate zu schaffen für das, was nicht sozialisierbar ist.
Helmuth Plessner hat in seinem weit gespannten Werk immer wieder betont, dass der Begriff der Kunstnatur auch auf den Menschen selber anzuwenden ist, die Ambivalenz von Gesellschaft zwischen Naturgewalt und Utopie mithin ein anthropologisches Fundament hat: »Der Mensch, in seine Grenze gesetzt, lebt über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern erlebt sein Erleben. Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Körper und Seele und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphären.« Die conditio humana ist die einer Natur ohne die instinktive Sicherheit der übrigen Tiere. »Menschliche Natürlichkeit ist künstlich, eine überkommene, gelehrte und gelernte, sorgsam gehütete, unter Umständen zäh verteidigte oder nach Erneuerung verlangende Natürlichkeit«7. Jenseits ihrer kulturellen Modellierung und diese erst ermöglichend bleibt menschliche Natur vor allem eins: gespalten. Gespalten ist sie nicht nur durch die Zweisamkeit von Mann und Frau bis hin zur verwirrenden Möglichkeit eines mitunter auch transsexuellen Daseins, sondern in sich verzweigt ist der Mensch durch die konstitutive Doppelung seines Lebens als biologische und geistige Existenz. Fremd wird ihm nicht erst sein sich mit Alter und Tod entziehender Leib, fremd wird er sich mit seinem erwachenden Bewusstsein darin, dass inneres und äußeres Erleben verschiedenen Gesetzen folgt.
Der Geist des Menschen kennt im Universum von Natur keine Entsprechung, ist aber seinerseits nicht körperlos. Sein materielles Dasein hat er im artikulierten Laut unzähliger Sprachen und im visuellen Zeichen. Der objektive Geist markiert sein Territorium durch die institutionellen Grenzpfähle der Zivilisation und entwirft eine unsichtbare, aber wirkmächtige Choreografie, welche die Schritte der einzelnen Individuen lenkt. Mit der Idee des Rechts sucht Gesellschaft von Anbeginn die Begrenzung der Gewalt, die aus der Konfrontation mit Natur in ihrem Inneren fortwirkt. Gesetz und Recht domestizieren Gewalt, ohne sie eliminieren zu können. Das stets autoritär verteidigte Gewaltmonopol des Staates kanalisiert sie im Namen der Gemeinschaft und postuliert einen fundamentalen Unterschied zwischen der blinden Willkür von Naturgewalt und der Herrschaft des Gesetzes. Die zivilisatorische Alternative entfaltet sich nicht als die von Gewalt oder Gerechtigkeit, Macht oder Freiheit, sondern mit der schmalen Differenz zwischen der als notwendig verantworteten oder als willkürlich verworfenen Gewalt. Wie die Abfolge und das Nebeneinander verschiedener Kulturen zeigen, ist die Unterscheidung zwischen erträglicher und vermeidbarer Gewalt beweglich; gezogen wird sie durch die Verständigung über das Bild des Menschen und die Auffassung von seiner Stellung im Umkreis der übrigen Lebewesen.
Die zentrale Errungenschaft von Kultur ist die Entwicklung des positiven Rechts: darüber hinaus erhebt sich ebenfalls von jeher der Flügelschlag einer Phantasie, die das geltende Recht am Ideal eines gewaltfreien Zusammenlebens misst und seine Veränderung fordert. Utopien begleiten die Kultur als religiöse oder säkulare Versprechen eines anderen, besseren, freieren Daseins. Ihr sinnlich übersinnlicher Körper ist der von Sprache und Bild.
Im Lauf der Kulturgeschichte überschreibt die symbolisch vermittelte Wahrnehmung der Welt mit ihrer Arbeit am Menschen die sinnliche: was ist, wird nicht nur konkret und unmittelbar erfahren, sondern gelernt – vermittelt über ein Netz von Kategorien, das die jeweilige Wahrnehmung nach Raum und Zeit und Ethos ordnet. Erworben wird neben einem wachsenden Schatz praktischen Wissens eine lange schmerzhafte Kenntnis von Geschichte und der Dynamik sozialer Prozesse. Alles erscheint im Licht eines schon tradierten Erlebens und also gedeutet. Die symbolisch wahrgenommene, die gelernte und gelehrte Welt entfaltet vom alten Mythos bis zur neuesten Wissenschaft den Horizont, vor dem das menschliche Leben spielt. Die Bretter seiner Bühne sind aus dem Stoff von Natur, getanzt wird aber nach dem Rhythmus des Symbols. Wer sein Gedächtnis verliert, verliert den Schlüssel zur Schatzkammer dieser Welt, in der die Formel ihrer Wahrnehmung, hieroglyphisch verfaßt und schwer zu entziffern, aufbewahrt liegt.
Solange Gesellschaft über ihre natürliche Reproduktion widerwillig und demütig den Vorgaben einer übermächtigen Natur folgt, läuft ihre Bewegung weitgehend synchron zum naturhaften Maß aller Dinge. Erfahrungen, die aus der Begegnung mit Natur gewonnen werden – Wachstum, Blüte, Vergängnis, Herrschaft, Kampf, Unterwerfung, Beute – bestimmen auch die symbolische Ordnung der Kultur und deren Verständnis von Sexualität. Erst mit der technisch-industriellen Emanzipation von der alles prägenden Erfahrung des Mangels gewinnt auch die Dynamik des Symbolischen ein ausgreifendes Eigenleben jenseits seiner Bindung an das, was es symbolisiert. Natur wird zur Materie abstrahiert und zum Gegenstand einer nur durch das Interesse an Beherrschbarkeit begrenzten Manipulation. Die Entzifferung des genetischen Codes und seine Darstellung als Zeichenfolge suggerieren völlige Transparenz und die Möglichkeit eines Lebens nach dem Muster amüsant geschriebener Erzählungen. Die entfesselte Phantasie, unerschöpflich als Universum von Zeichen, steht kulturindustriell einer Menschheit zur Verfügung, die sich zunehmend vom Diktat der Arbeit befreit, aber offensichtlich ein unstillbares Verlangen nach Unterhaltung verspürt. Der Sieg über die Lebensnot bedeutet auch die Möglichkeit eines Daseins, das im weiten Reich der Phantasie ein verspieltes Vergessen feiert und im übrigen darauf vertraut, dass allein die effiziente Arbeitsteiligkeit der modernen Gesellschaft die anstehenden Probleme bewältigen wird.
An dieser Stelle intervenieren die Modelle und Installationen R.M. Matysiks. Als Kunstobjekte spiegeln sie, wie alle Kunst, die Phantasie des Menschen und deren Tendenzen. Wo die technischen Utopien des vergangenen Jahrhunderts: höher, schneller, weiter, sich auf das anschauliche Maß von Raum und Zeit – von hier bis zum Horizont, zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang – bezogen haben, bleibt das Imaginäre im digitalen Zeitalter vorerst eigentümlich konturlos. Die für keinen menschlichen Sinn vernehmbare Wirklichkeit elektromagnetischer Zustände bedeutet eine undarstellbare Kluft zwischen dem Bild auf der Oberfläche des Schirmes und dem Strahl, der es hervorbringt. Zwischen der symbolischen Logik seiner Programmierung, für Vernunft begreiflich als Folge mathematischer Zusammenhänge, und dem sinnlich vermittelten Resultat klafft ein Abgrund. Das technische Fundament unseres neuen sozialen Körpers ist anschaulich nicht mehr zu erfassen. In dieser Kluft zwischen der unfaßbaren Produktivität codierter Maschinen und ihren greifbaren Erzeugnissen siedeln die Objekte Matysiks. Sie verkörpern die Ambivalenz unserer Wünsche. Gegen allen Augenschein handeln seine postevolutionären Lebensformen deshalb nur an ihrer Oberfläche von der realen Möglichkeit einer zweiten, gentechnisch hervorgebrachten Schöpfung. Als Kunstaktion thematisieren sie in Wirklichkeit das Verlangen danach. Über die Realisierung biologischer Utopien wäre allein rechtlich zu entscheiden. Kunstwerke hingegen sind mehr als nur ein sinnlich verwirrender oder politisch provozierender Beitrag zur Debatte darüber. Selbst wo sie politisch auftreten, transportieren sie abseits ihres scheinbar konkreten Anliegens die Botschaft von der grundlosen und abgründigen Freiheit des Menschen. Deswegen lässt sich aus keiner künstlerischen Position unmittelbar die Anleitung zu einer bestimmten politischen Handlung entnehmen; deswegen sind der Charakter eines Künstlers oder sein soziales Verhalten nebensächlich für das Verständnis seiner Arbeiten. Als eigentümlicher Ausdruck der Doppelnatur des Menschen bleibt Kunst paradoxal; ihre Interpretation kann triftig sein, aber nicht definitiv. Was kein Dingliches ist, aber sich dinghaft unter Dingen zur Erscheinung bringt, bleibt vieldeutig.
Die phantastischen Modelle Matysiks und ihre Propagierung im ästhetischen Manifest sind Modelle der Phantasie. In ihnen sucht das Imaginäre selber nach Darstellung: die triebgesteuerte, bildschaffende Einbildungskraft des Zeitalters. aktive evolution und organismische kraft8 durch komplexe vernetzung werden vielleicht einmal Eigenschaften zukünftiger Wesen sein; höchst gegenwärtig sind sie Chiffren für die zeitgenössische Gestalt von Imagination und ihre computerbasierte Anwendung. In den Arbeiten des Künstlers schafft diese sich einen bizarren Raum. Die eigentümliche Liaison von Sexualität und Zukunft, die hier plastisch wird, ist Ausdruck für die Sehnsucht unserer Epoche, abstrakten Programmen einen berührbaren, lebendigen, anschmiegsamen Körper zu verleihen. Je unlesbarer die Matrix dessen ist, was uns bewegt, desto stärker wird das Verlangen, sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Was einmal die Aufgabe von Religion war, wird zukünftig eine Verständigung leisten, die verlässliche Formen und Rituale erst noch finden muss. Kunst zielt experimentell auf die Herstellung von Sinn, indem sie zweckfreie Anordnungen schafft. Als Spielraum von Freiheit schafft sie Ekstase und Schmerz, ohne ihre realen Folgen politisch vertreten zu müssen. Kultur steht vor der Herausforderung, ihr technisches Vermögen zivilisatorisch zu deuten. In dem Maße, wie die überlieferten Institutionen an Transparenz und Gestaltungsmacht verlieren, wächst auch das Bedürfnis nach einer neuen Gestalt des Sozialen. Zukünftige Lebensformen werden ihre Bedeutung am Verhältnis erweisen, das sie zum menschlichen Körper und seiner beweglichen Doppelnatur ausbilden. Ob Horror oder Versprechen: Reiner Maria Matysik inszeniert ihre Erscheinung als Drama einer sinnlich verlockenden Begegnung. Seine prototypmodelle aktiver evolution überschreiten die Projektionsflächen der Welt von Wille und Vorstellung und berühren das in uns, was unvorstellbar ist. Wir sind gespannt auf die Orte, an denen sie sich ansiedeln werden.
- Vgl. M. Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988, S. 205
- So Meyers Großes Konversationslexikon 1905, Bd. 14, S. 452. Nach einem in vieler Hinsicht revolutionären Jahrhundert hat sich diese lexikalische Bestimmung so verändert, dass der gegenwärtige Meyer Natur »allgemein« als den Teil der Welt begreift, »dessen Zustandekommen und gesetzmäßige Erscheinungsform unabhängig von Eingriffen des Menschen sind bzw. gedacht werden können«: wenn auch Natur, sei es das globale Ökosystem im Ganzen, sei es die von wissenschaftlicher Beobachtung erfasste, nicht unabhängig vom Menschen ist, so kann sie doch so »gedacht« werden.
- G. Böhme, Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1992
- Zufall und Absichtslosigkeit bestimmen viel stärker, als von Darwin angenommen, auch die biologische Evolution, nicht nur die Erdgeschichte. Exemplarisch dazu die Arbeiten des amerikanischen Paläontologen Stephen J. Gould.
- Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt 1970, S. 103
- Peter Sloterdijk hat mit großer Sensibilität für die Erschöpfung der ästhetischen Moderne 1987 formuliert, was als Bildende Kunst und Musik dann in den vergangenen 20 Jahren sinnfällig geworden ist: experimentelles Arbeiten in Raum und Zeit abseits von Überbietungsstrategien. Vgl. P. Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch, Frankfurt 1987
- aus: H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, Stuttgart 1982 und Anthropologie der Sinne, Frankfurt 1970
- Vgl. Reiner Maria Matysik, wesen. prototypmodelle postevolutionärer lebensformen, Frankfurt 2007