Burghart Schmidt
Garten – das Wort kommt von Urformen, die Zaungeflecht und Flechtzaun meinen, so mit Gatter und Gürtel zusammenhängen, gar mit dem russischen Gorod gleich Burg. Daher hatten die Deutschsprachigen Nowgorod korrekt mit Nau(v)gard übersetzt. Im weiteren Umfeld bedeutet figurativ Garten das Umzäunte, Umhegte bis zum Hof. Damit ist er aufs Äußerste und durch und durch menschgestaltete, menschgeordnete, menschgezüchtete, menschbeschnittene, isolativ aus der Natur herausgehobene Insel, abgedichtet gegen die übrige Natur geschlossenes Eigensystem, zentraler Ort wie Hort der Züchtung gleich dem Stall. Was die Angelegenheit des Unkrauts stiftete, Unkraut ist das, was die isolative Einflechtung, Abschirmung trotzdem durchdrang und so an seinen ungehörigen Ort gelangte.
Einerseits sahen dann Schrebergärten so wie Wohnzimmer aus, gebürstet, gebügelt, ausgefegt und ausgesaugt, ausgeklopft, ausgeharkt und ausgewaschen. Andererseits konnte es im Stadtgartentyp schon sehr viel früher, nämlich seit der Antike zur fortifikativen Einmauerung kommen. Denn Stadtgärten mußten nicht nur gegen die übrige Natur geschützt werden, sondern ebenso gegen den anderen Menschen: My garden is my castle! Man denke an die vielen Gärten im steinernen Venedig, der die öffentlichen Straßen benutzende Besucher gelangt trotz ihrer aus dem steinernen Venedig nicht hinaus. Er hat es dort allerdings auch nicht nötig, durch die vielen Weitblicke auf das Wasser der Lagune. Also Gärten seit Urlangem die völlig menschengestaltete Restnatur. Dem entsprachen die früheren Arbeiten von Reiner Matysik, die eine Pflanzenwelt aus der Phantasie gestalteten, samt einer ironisch an Linné orientierten Klassifikation fragmentarisch in Begleitung. Das begleitende Sichorientieren aber am Linnéschen macht wohl den einen Grund, warum die pflanzenerfinderische Phantasie Matysiks sich vor allem auf die Sexualorgane, die Blüten richtet. Nach ihnen hatte Carl von Linné seine Klassifikation eingerichtet.
Der andere Grund findet sich im von Matysiks von ihm selbst erzählten Traum von einer entgrenzten Kommunikation zwischen Mensch und Pflanzenwelt. Heute ist von solcher Kommunikation viel die Rede. Der Mensch beginnt mit den Pflanzen zu reden, was ihnen helfen soll, Pflanzen und Pflanzenlandschaften als Bilder werden psychotherapeutisch eingesetzt, was dem Menschen hilft. aber es geht dabei um eine hermeneutische Kommunikation, eine Verständigung (demnächst erscheint ein Buch von Ingrid Greisenegger, das dazu einiges enthält: Wieviel Garten braucht der Mensch?). Matysik meint darüber hinaus mehr, einen erotischen Verkehr bis zur zwischen Mensch und Pflanze vermischenden Fortpflanzung in der Eigenschaftstransformation. Was unmittelbar – direkt real zwar ausgeschlossen und nur symbolisch – metaphorisch, also künstlerisch einzuholen ist, außer in science-fictionaler Gentechnologie, der das wie objektivreale Möglichkeit zu erscheinen vermöchte.
Nun steht eine phantastische Transformation der Erscheinungsbilder von Pflanzen und Tieren in einer uralten Tradition von Rokoko zurück besonders in den Manierismus, zurück in die Romanik, zurück unter die Monster der Antike, zurück in die gesamte Ornamentgeschichte. Gerade für diesen Zug im Manierismus trat ein Interpretationsbegriff auf, etwa zu Hieronymus Bosch und Pieter Breughel, der der Montagepflanzen und Montagetiere, der darauf aufmerksam macht, daß es sich nicht um völlig neue Erfindungen aus der Phantasie handelt, sondern um Transformationen eben, Überformungen also und verändernde Zusammensetzungen, auch verändernde Isolationen, Vergrößerungen, Verkleinerungen eines Vorgegebenen von Welt. Und das kann man auch erschauen in der neuen Pflanzenwelt von Matysik. Er meint aber nicht mehr nur die Phantastik der neuen Erscheinungsbilder von Pflanzen, allenfalls mit interpretativen Symbolwirkungen, sondern es geht ihm um einen kommunikativen Umgang mit ihnen auf Wegen von Performances, heißt es. Wo diese allerdings sexuelle Kommunikation bis zur Fortpflanzung anspielt, muß sie sich freilich wieder auf symbolische Wirkung einlassen.
Man fragt sich dazu, warum sich Matysik offensichtlich genötigt sah, seinen künstlerischen Darstellungsmanövern von unten her eine Theorie der Gentechnologie einzuziehen, die Partei zu ergreifen scheint für den Sinn dieser neuen technologischen Horizonte jenseits ihrer ausgeklammerten Gefahren. Denn diese kann er ja aus seiner im Vergleich mit ihnen groben künstlerischen Phänomenalwelt gar nicht erreichen, er berührt sie überhaupt nicht, zeichnet also von seiner Arbeit her keine Verantwortlichkeit für sie. Ich meine über die mikrokopische Ebene hinaus die Nanosphäre einer Manipulation der genetischen Programme in der Desoxyribosenukleinsäure selber mit den Gefahren der Erzeugung neuer mikroskopischer Krankheitserreger und der Erzeugung von Verkrüppelungsprogrammen des Menschen, gegenüber denen die Welt der Conterganverkrüppelungen nur die Vorhölle wäre.
Und wenn man an Realisation denkt in Hinblick auf ausgestaltete utopische Phänomenalität eines Wünschenswerten, wie sie Matysik darstellerisch formuliert hat, dann bewegt sich vom heutigen Stand der Gentechnologie her alles in einem Science-Fictionalen eben. Die Debatte über neuen Phänotyp Mensch wäre ohnehin absurd. Nur im Totalitarismus wäre sie willkürlich so zu entscheiden, daß Gentechnologie überhaupt einsatzbar wäre in bösesten Horizonten eines hoffentlich, hoffentlich aus der Welt liegenden.
Aber das hat ja alles nichts mit dem zu tun, was man durch Matysiks künstlerische Darstellungen zu sehen und zu erleben bekommt. Höchstens seine Texte reissen das bedenklich an. Ihren Theorieansatz kann ich allerdings auch noch verstehen und mitvertreten, insofern er Einspruch erhebt gegen eine sofortige und völlige Verteufelung der Genetischen Forschung, die man doch abschirmen könnte gegen die Gefahren und Unlösbarkeiten von Absurditäten und die Gefahren einer Gentechnologie in voreilender Beschleunigung der Angewandtheit. Man könnte ja auch Matysiks Unternehmungen künstlerischer Art negativ-utopisch verstehen, wie man das einst mit den technologisch ebensowenig realisierbaren Kunstentwürfer der Haus-Rucker-Gruppe gegen total verschmutzte Umwelt tat. Diese Gruppe stand, wie ich von einem ihrer Mitglieder, Klaus Pinter, weiß, ebenfalls in völliger Ambivalenz, einerseits Ablehnung der horrenden Umweltverschmutzung, anderseits Fasziniertheit durch die technologischen Möglichkeiten, sich in der Umweltverschmutzung gegen sie zu behaupten in einer Ersatzwelt der Isolierstationen, also totalen Gärten.
Wobei allerdings zu Matysiks künstlerischer Darstellungsarbeit ein Drehhierzugewirbelt werden muß aus dem unheimlichen Abgrund zwischen seinen Phantasien und dem Spiraldenken der Gentechnologie, indem diese ihren Zug des Unheimlichen doch über den Abgrund hinweg oder unter ihm hindurch den Phantasien Matysiks einwindet. Erst in doppelter Kehre entsteht das Negativ-Utopische. Bei den Haus-Ruckern konnte man noch die Fasziniertheit von einem selber unbemerkt mitschlucken, bei Matysik muß man sich ihre Provokationsmacht vergegenwärtigen. Sonst wäre alles Paletti, auch die Gentechnologie fände umstandslos unter Ausblenden ihrer Problematik ihre künstlerische Beweihräucherei. Vielleicht ist die Kehre aber verdoppelt viel besser geeignet, einen zu Gewarntheitsposition zu bringen im Schein der Fasziniertheit, die wir ja alle dem Forschungsfortschritt der Genetik entgegenbringen. Machen wir sie doch einmal ein bißchen mit bis zum Kotzen, diese Fasziniertheit.
Und noch zu etwas anderem benötigt Matysik seinen gentechnologischen Rekurs für den seiner Arbeit unterstellten Sinn. Es geht ihm im Namen der Kommunikativität, im Namen ihrer unermeßlichen Ausbreitung um ein Kontra zum Individualismus. Gentechnologie in ihrem Horizont wäre ja als unbegrenzte Austauschbarkeit und Montierbarkeit von Erbprogrammen das grundsätzliche Erledigen von individualistischer Individualität., Individualität wäre nur noch Montageelement.
Im ersten Schritt könnte man das Kontra zum Individualismus ja noch mitmachen. Wenn es um den Individualismus der euroamerikanischen Spätform geht, der sich in Charakter und Schicksal von der Wiege bis zum Grabe festschreibt. Und jeder Individualist ist dann ein sozusagen Festgeschriebener von der Wiege bis zum Grabe. Ein Opfer seiner durchhaltenden, nachhaltigen Selbstbestimmtheit, das nie enttäuschen darf, Selbstzwang, Selbstunterwerfung, Selbstdressur, die, stoisch ausgedrückt, zur rauhen Haut einer Säule geführt haben.
Dagegen erging schon die jesuanische Hoffnung vor 2000 Jahren: »Denn siehe, ich mache alles neu!« Aber die Lösung des Neuwerdens als eines Naturrechts auf Möglichkeit (Charakter muß immer wirklich sein) heißt nicht Auflösen des Individualismus. Auflösen des Individualismus wäre immer Rückfall oder Rückwurf in bloße Natur. Das haben uns die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts in antiutopischer Weise gezeigt mit ihrem Kult des neuen Menschen. Sie haben geklärt, daß zum Rückwurf oder Rückfall in bloße Natur immer die Entindividualisierer gehören, die ihre individualistische Individualität am allerwenigsten preisgeben, aber die vielen Anderen zu Rädchen im Getriebe ihrer Maschinerie zu machen. Ob in der Ideologie der rassistischen Züchtungstechnologie oder in der mehr, aber nur betrügerisch, nach Utopie riechenden Ideologie einer Didaktik als Technologie, arbeitend auch mit Übernahmen aus der anders und entgegen gerichteten Tiefenpsychologie, benutzt zur Gehirnwäsche.
Man muß sich also um einen Individualismus bemühen jenseits der postexistenzialistischen Klagen um Verlust der Individualität und Identität seit den 70er-Jahren. Dagegen hatte ich immer eingewandt, daß wir vielmehr noch an viel zu vielen Identitäten litten. Für einen Individualismus der Veränderlichkeit, der Transformierbarkeit, eben der Lernfähigkeit kann man viel lernen von denen, die einem Jammer-Postexistenzialismus zu Unrecht angeklagt wurden der Zerstörung des Subjekts, der Identität, der Individualität, des Charakters Jacques Lacan, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Michel Foucault haben nämlich in der Tat nicht die Individualität und damit den Individualismus aufgelöst, vielmehr haben sie beide situationalisiert und so die Relativitätstheorie des Individualismus geschaffen im richtigen Sinn von Relativität und Situation. Der meint nämlich, wie einst schon Ernst Bloch gegen die Milieutheorie, daß das Individuum »keineswegs mit jeder Pfütze, in die es schaut, grau wird« (Formulierung nach Ernst Bloch). Individualität bleibt ein veränderlicher Gegenzugsfaktor in der Situation, von ihr bestimmt sie schon bestimmt habend und weiter bestimmend.
Auf solchen Wegen verstehe ich Matysik, und nicht auf den Wegen einer Kommunikation als absoluter Vergemeinsamung, das wäre eben der Rückfall in bloße Natur als Automatie ohne Oppositionalität. Sonst wäre es auch gar nicht zu jenem lang sich hinziehenden Darstellungsband gekommen, das den Gehalt vorliegenden Buches ausmacht, abgezogen aus einem Video. Ein Gemenge aus abbildlichen Landschaftsfragmenten, Pflanzenfragmenten, Gesteinsfragmenten, Tierfragmenten, durchsetzt mit Phantasiepflanzen, Phantasietieren, Phantasiebruchstücken von etwas, bisweilen sind Realfragmente gegen ihre Realität gereiht zu einer Fast-Gesamtstruktur. Man muß dem Streifenband entlangfahren, es also wiederum in einen Film verwandeln für sich. Zugleich wird man in die Vertikale eines anderen querlaufenden Kurzfilms gegenüber dem Langfilm getrieben.
Die Darstellungsarbeit setzt auf einen analytisch synthetisierenden, in Synchronie diachronisierenden Beobachter, und das ist eine Beobachterindividualität, die das allein zu leisten vermag. Diese, in bloße Natur aufgelöst, würde nur praktisch wahrnehmen, im Reiz-Reaktionsschema, wie es auch die totalitaristischen Herren des Hitlerischen, des Stalinschen angesteuert hatten, den Einzelmenschen zu bringen nur ins Reiz-Reaktionsschema des Aktionismus. Dieses Buch hier aber argumentiert aber darstellerisch gegen das Reiz-Reaktionsschema, also gegen bloße Natur, und befreit Matysiks Kommunikationsidee zu ihrem stärkeren Sinn einer Vermischung der Programme, die sich aber immer wieder in sich selbst geändert voneinander absetzen. So wendet sich das aber gegen Maschinisierung und Automatisierung. Und das heißt, aus bloßer Natur hebt Individualismus immer aufs Neu an, Natur wirkt nur in der individuellen Auffassung phantastisch und Phantastik produziert sich nur durch individuelle Phantasie.
Aber wirkt nicht die extreme Struktur‑, Figur‑, Fragmentvielfalt in der Vielfalt des Farbigen wie das, dem Phantastik wie Erhabenheit äußerst nahestehen, hauchdünn nahestehen, wie Kitsch? Die Vielfalt hier erinnert an ein lebendes Korallenriff. Und inder Tat, Natur kann nicht kitschig sein. Der Satz gilt aber nur objektiv, im subjektiven Auffassen von Natur vermag sehr wohl Kitsch aufzutreten. Das übliche Bewundern von Sonnenauf-wie-untergängen läßt das spüren. Und wie schrieb Max Frisch so schön?: Sie standen an der Reling, schauten in den Nachthimmel über dem Meer; sie sprachen von den Sternen, das Übliche.
Aber in dem Bildstreifenband Matysiks arbeitet alles gegen die Standards und Normen des industrialisierten Kitschs, darum erinnert alles daran und ist doch überall unterlaufen. Wer sich auf ein Kitschmotiv stürzt wird sofort unterbrochen. Ein Garten liegt vor, insofern Naturlandschaft fragmentarisiert wurde, wodurch sie den Charakter einer Simulationsinsel erhält, wie in englischer Gartenkunst zeitweilig beliebt war, kleine Landschaftsfragmente anderer Gegenden einzumontieren. Und in die Zwischenbereiche der Fragmente, die sich sonst überblenden oder aneinanderfügen würden, schieben sich, winden sich die Kunstpflanzen, Kunsttiere ein aus der Gartenzüchtung Garten anmeldend. Insgesamt handelt es sich aber um einen Garten aus Gärten, in dem sich kein Weg auch nur eine Weile auslaufenläßt bei aller Vergartung von allem und trotz des Filmablaufbands. Diese Unruhe in der Darstellung arbeitet allein schon gegen den Kitsch. Denn weil ja wiederum der Streifen als gesamter vorliegt, wird auch der Kitsch der Zackbild-Zackbild-Zackbildmontage verhindert. Vielmehr schlägt Bahnstruktur in vielfach aneinanderschachtelnde Labyrinthaufsichten um.
Wenn das über Kunstpflanzlichkeit und Kunsttierlichkeit von Garten- und Gehegemotiv her an Genetiktheorie sich wenden will, dann würde auch die handwerkelnde Gentechnik ausreichen, die so alt ist wie Ackerbau und Viehzucht überhaupt. Und sie hat gerade in Hinblick auf das Blühwesen der Pflanzen Phantastisches gemäß trditioneller Züchtung und Kreuzung zustande gebracht, auch in sexueller Metaphorik. Man denke an Rosen und Nelken einer Vielfachvaginalität, hinter der das Phallische verschwindet. Oder man denke an die Kultivierung des Aaronstabs, was man am besten auf der südbretonischen Belle-Île-en-Mer studieren kann, eine gesteigerte vieläugige Phallushaftigkeit, hinter der das Vaginale verschwindet.
Allerdings schon die handwerkelnde Gentechnik erfuhr seit Darwin und Mendel eine Methodologisierung, die sie in eine Technologie verwandelte. Und gleich danach setzte sich eine Ideologie darauf, die die Intentionen dieser Experimentierer und Empiriker ins Gegenteil verwandelte. Die beiden Originale wollten das Zustandekommen von neuer Phänomenalität im Lebendigen verstehen, der nachfolgende Rassismus feierte die Rückzüchtung des Auerochsen und der blonden Bestie. Darwin erklärte die Abänderung und Vermischung der Erbprogramme zum zentralen Lebensprinzip des Lebendigen, der Rassismus predigte Rassereinheit, also feierte Mindern der Überlebenschance.
Der Garten als Ort wie Hort der Züchtung war also schon vor einer Gentechnologie, die eine Abänderung der Erbprogramme direkt an den Vererbungsmolekülen betreiben will, ideologisch wenigstens eine Gefahren bergende Angelegenheit. Aber Matysiks Bilderstreifen hier läßt, indem er den Garten einbrechen läßt in die öffentlich Rohnatur, und die offensichtliche Rohnatur fragmentarisiert zu simulativen Inselgärten, den Garten in sich selber einbrechen und zur Natur hin, die Natur vergartend, auseinanderbrechen.
Dieser Text ist im Buch Thailändisches Erbgut veröffentlicht.