Am 25. November 2009 fand die Eröffnung der Ausstellung Failed Organisms im Laboratoria Art & Science Space in Moskau statt. Neben Arbeiten zu gescheiterten Organismen habe ich das Projekt Referendum: Für die rechtsgültige Erlaubnis zur Zeugung gemeinsamen Nachwuchses von Menschen und Primaten zur Errichtung einer Fortpflanzungsgemeinschaft vorgestellt. Einige Tage später hielt ich einen öffentlichen Vortrag in der Ausstellung, nach dem Vortrag kam ein etwa 60-jähriger Mann zu mir. Die PR-Direktorin von Laboratoria, Olga Sofronchik, übersetzte das Gespräch. Gleich zu Beginn übergab er mir eine DIN-A4-große Mappe und sagte dazu, dass sie von seinem Großvater stamme, der ein deutschstämmiger Arzt gewesen sei. Er hätte als alter Mann merkwürdig erscheinende Vorstellungen von autonomen haufenförmigen Menschenteilen entwickelt und versucht, sie ihm nahezubringen. Er hätte diese Visionen auf losen Blättern festgehalten und sie ihm kurz vor seinem Tod mit der Bitte übergeben, dafür zu sorgen, dass sie an die Öffentlichkeit gebracht werden. Nun seien die Zeichnungen nicht sehr detailreich und die Notate schwer lesbar und zudem auf Deutsch verfasst, sodass er bislang niemanden gefunden habe, der etwas damit anfangen konnte. Er sei zu der Eröffnung meiner Ausstellung in den Laboratoria Art & Science Space mit der Hoffnung gekommen, in mir jemanden zu finden, der sich der Sache annehmen könne. Nach dem Vortrag und der Diskussion sei er sich sicher gewesen, dass mich die ihm zugefallene Hinterlassenschaft interessiere, und er bat mich, die Seiten an mich zu nehmen und ihn von der Last zu befreien.
Die Zeichnungen und Texte scheinen aus den 50er- bis 70er-Jahren zu stammen. Der Deutschrusse hatte seine Ideen in bruchstückhaften Aufzeichnungen, Abschriften aus wissenschaftlichen Texten und mit Bleistift gezeichneten Skizzen festgehalten. Das kleine Konvolut vermittelt ein lückenhaftes Bild einer eigenwilligen Vision vom Menschlichen. Es sind fünf Seiten fragmentarischer Texte und Zitate, die wie einzelne Bausteine für ein nicht fest umrissenes Gebäude erscheinen. Ich habe die handschriftlichen Aufzeichnungen transkribiert.
Die Zeichnungen, die alle auf bläulichem, grobem Papier gefertigt sind, habe ich als Basis für die plastischen Modelle genutzt.
Hier einige seiner Abschriften aus wissenschaftlichen Texten:
Epoche der bewussten Steuerung des Lebens auf der Erde
— N. P. Dubinin, russischer Genetiker
Nur wenn man vom Grundcharakteristikum unserer Epoche, dem Übergang der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus, ausgeht, lässt sich die Bedeutung der Biologie für die Zukunft des Menschen im richtigen Zusammenhang diskutieren. — R. Löther, Wissenschaftsphilosoph
Das Leben ist ein hochstabiler Zustand eines Stoffes, der zur Erzeugung von Erhaltungsreaktionen Informationen ausnutzt, die durch die Zustände der einzelnen Moleküle kodiert werden. — A. A. Ljapunow, in: Sowjetwissenschaft – Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 6.1970
Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers, besteht (…) vor allem darin, dass er in jedem Augenblick er selbst und zugleich ein anderer ist; und dies nicht infolge eines Prozesses, dem er von außen her unterworfen wird, (…) das Leben (…) ist ein sich selbst vollziehender Prozess, der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, (…) — F. Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 20, S. 76
Das Fortschreiten der Evolution des Lebens erfolgt mit innerer Notwendigkeit, deren konkreter Ausdruck der konflikthafte Charakter der sich ständig umgestaltenden biotischen Beziehungen ist. — J. M. Olenow: Einige Probleme der evolutionären Genetik und des Darwinismus, Moskau und Leningrad 1961 (russ.), S. 148
Einige (…) klammern sich noch an die sinnlose Hoffnung, dass alle Veränderungen, die bei Organismen im Experiment beobachtet wurden, Veränderungen innerhalb einer Art seien. Raphanobrassica (erste neue Art, tetraploide Pflanzen aus diploiden Bastarden von G. D. Karpetschenko 1928 gewonnen, Anm. des Autors) (…) ist ein neuer, bislang unbekannter Organismus, nämlich Raphanobrassica. — T. Dobzhansky: Die Entwicklung zum Menschen, S. 215
Die stürmische Entwicklung von Wissenschaft und Technik macht das ewige Problem der Beziehung zwischen Mensch und Natur besonders aktuell. Schon die ersten Sozialisten waren der Ansicht, ein wichtiger Wesenszug der Gesellschaft der Zukunft werde die Annäherung des Menschen an die Natur sein. — L. I. Breschnew: 50 Jahre großer Siege des Sozialismus, Berlin 1967, S. 33
Die Hydra der alten Sage war ein Tier, erfunden wahrscheinlich nach dem Bilde des Oktopus, des Polypen oder Tintenfischs, eines Tieres, das der Zoologe heute an die Spitze der Mollusken stellt – ein relativ hoch entwickeltes Tier also. Jener Herkules aber kämpfte mit einem Wesen, nicht Tier, nicht Pflanze. Bloß lebendig. Ohne Kopf und Glieder, ohne klar umrissene Form. Nicht riesig wie die Sagenhydra im Sinne eines einzelnen tierischen Riesenleibes. Aber riesig in einer anderen Bedeutung, die über die Hydra hinausgeht. Der Hydra wuchs anstelle jedes abgehauenen Kopfes ein neuer nach. Das Ungeheuer, das ich meine, reißt durch eine Art Vermehrungsakt den Kämpfer unter den Händen in Milliarden neuer Scheusale einfach auseinander. — Wilhelm Bölsche, Vom Bazillus zum Affenmenschen, Jena 1921, S. 3
Siehe, er geht vor mir über, eh ich’s gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ich’s merke. — Hiob, von Goethe der Morphologie vorangestellt
Das Individuum ist überhaupt nicht als etwas Stationäres zu fassen, sondern nur phasenhaft. Das Individuum als Ganzheit ist eben der Individualzyklus. — J. W. Harms, Individualzyklen als Grundlage für die Erforschung des biologischen Geschehens, Berlin 1924, S. 3
Prometheus sieht die übrigen Tiere in allen Stücken weißlich bedacht, den Menschen aber nackt, unbeschuht, unbedeckt und unbewaffnet, also stiehlt er die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene nebst dem Feuer, und so schenkt er sie dem Menschen (nach Protagoras, Platon, Anm. des Autors). Was, wenn der Mensch von der Last befreit würde und ohne Kultur und Technik ein pflanzlich-animalisches Dasein führen könnte?
Als ob nicht Tausende von körperlich schwachen und hinfälligen Dichtern, Gelehrten, Erfindern und Reformatoren, zusammen mit wiederum Tausenden sogenannter »Narren« und »geistesschwacher Enthusiasten« die wertvollsten Truppen wären, die die Menschheit in ihrem Kampf ums Dasein mit geistigen und moralischen Waffen gebraucht, die doch gerade Darwin in eben denselben Kapiteln der »Abstammung des Menschen« so emphatisch betont hatte. — P. Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Leipzig 1910, S. 3
Hier einige Abschriften seiner handschriftlichen Notizen:
die unten liegenden Teile sind blutreich, die oben liegenden blutarm / geflechtartiges straffes Bindegewebe hält die Form zusammen / die Haut wird blass an den Stellen, auf denen das Gewicht des Körpers lastet / nach außen gestülpte mit Muskelgewebe durchsetzte Schleimhaut / die Haut verfärbt sich durch Bakterien grünlich. Verdoglobin wird gebildet / von Gasbläschen durchsetzte Organe / Epithelgewebe bedeckt die äußeren Oberflächen des Körpers / Einlagerung von anorganischen Bestandteilen / Ausbildung von Druckpolstern aus Fettgewebe an der Unterseite / lymphatische Organe / weitgehender Rückgang der Knorpel- sowie der Deckknochen / Ausbildung als gekrümmter Schlauch / als Zotten ausgebildet / ein Gekröse / die Ursprünge der Sackwesen / entwicklungsgeschichtliche Wandlungen / Teilmenschen / Menschensäcke / taxonomische Gruppe: Homo tubero (schwellender Mensch) / Entwicklungsstufe: vom Homo erectus zum vegetativen Primaten / resultiert aus den Vorgängen der Reduktion auf grundlegende stoffwechselphysiologische Aktivität / die entscheidende Wende in der Anthropogenese mit der eigenartigen Entwicklung der Menschenimago / unaufhörlicher Vormarsch der Plasmawesen / Neuorganisation des menschlichen Lebendigen / das Wissen um die plasmische Seinsform führt aber zu einem neuen Aspekt des Organs als Organismus / die plasmische Seinsweise verharrt nicht einfach in der schlichten Existenz einer schleimartigen Amöbe oder als abgeschlossene Plasmaeinheit. Unter gewissen Bedingungen drängt das Plasma mit seinen Kernorganen zu einer neuen Seinsform, es leistet dies mit einer inneren Macht und Wucht: Die Keime formen Gestalten in einer Höheren Dimension. In einer Ordnung, in der auf verschiedensten Stufen … entsteht / dass die zweite Front der Medizin … die Gestalt und ihre Entfaltung … / eine neue Morphologie wird heute sichtbar, die auch eine neue Hierarchie der Lebensmerkmale aufstellt / die Zuordnung von plasmischer Anlage und verwirklichter Reifegestalt … / Jugendzustände / um die Entwicklungsschritte zu überblicken, die etwa aus einer Herzanlage das Herz hervorgehen lassen / Darstellen des Werdens eines Leibes / Daseinsform des Menschen / der Mensch ist in seiner Bestimmung offen und zu vielen Möglichkeiten fähig / ein Sonderfall der Menschwerdung / aus einem ins Unendliche reichenden Ganzen ausgliedern / unser forschendes Augenmerk auf irgendeinen besonderen Sachverhalt des Menschen richten / so bahnt sich eine Grundstimmung der Arbeit an. Aus ihr wachsen die Kräfte, die an einer neu zu schaffenden … mitgestalten / Mitformen an Menschen, das uns als eine zentrale geistige Aufgabe der Gegenwart erscheint. / diese so einfach erscheinenden halb durchsichtigen … / in optischer Leere (mikroskopisch) / eine wirkliche Neubildung / sehr weit abweichende Varianten / auch die Möglichkeit der Bildung solcher Neuformen … mit denen ganz neue Gestaltungen anheben / in kühnen Vorstößen über das Beobachtete hinaus vordringen ins Ungeschaute / das Vermögen zur Bildung einfachster Lebensformen / Idee vom sich selber komplizierenden Plasma / bewusstloses Leben (statt bewusstes Leben) Wechselspiel von Faltung und Entfaltung / Gewichtung auf die inneren Organe – Anlagen von neuartigen Organen / Kontraktionen (Muskelkontraktionen), Nervenerregung, Sinnesleistungen, Drüsentätigkeit, Sexualerscheinung, Geschehnisse / die wesentlichen anatomischen Entwicklungstendenzen, die erkennbar sind, betreffen die Reduktion des Kopfes wie der Extremitäten und den damit einhergehenden Verlust der bi- und quadripedalen Fortbewegung und der Aufgabe der manuellen Fähigkeiten. … ferner eine Regression des Gehirns. … der Sprung von der Wirbelsäule zu dem Wirbellosen / unter den Wandlungen, die durch das Gewicht biologischer Forschungen im allgemeinen Denken geschaffen worden sind und die auch die Idee vom Menschen folgenschwer beeinflussen, ist die Entwertung des Bewusstseins nicht die geringste / … die Einsicht besonders nachdrücklich durchsetzen, dass der Bereich bewussten Erlebens in der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der irdischen Lebensfülle verschwindend gering, geradezu punktförmig sich darstellt, dass dieses Bewusstsein wie verbannt auf winzigen Eilanden in einem Ozean von bewusstlos schaffendem Leben vorkommt / Einsichten in die komplizierten Steuerungen aller Lebensvorgänge, die von der befremdlichen, dem Menschen nicht fassbaren Macht des Plasmas geleistet wird / der mächtige Wogengang vegetierenden Daseins / das Leben auf dem weg zu sich selbst / eine Form von intermediärem Leben / sich verselbständigende Teile des Körpers / das was sich zusammengefunden hat, um Mensch zu sein, geht wieder getrennte Wege / … der Mensch, so wie er ist, richtet zu viel Unheil an, und der … / … und sehen, wie andere Wege möglich sind. / Substanz und Akzidenz (Idee von etwas). Es ist oder es ist nicht, tertium non datum. Die ganzen Dualismen. Hier aber etwas zwischen herausgelöstem Inneren und Äußerem. / Welchen Lebensraum brauchen diese Sackwesen? Nährlösung, Suppe, Meer, Luft? / Einheit von anorganischer und lebender Natur / Individualentwicklung und Regeneration / lebende selbsterhaltende Systeme menschlicher Basis / die einzelnen menschenartigen Haufen sind zu einer Organozönose verbunden / Tod ist das zeitliche Ende eines Individuums. Tod ist bei Menschen die Verwandlung in eine Leiche / natürlicher Tod ist bei sich durch Teilung vermehrenden Einzellern identisch mit der Fortpflanzung und somit Tod ohne Leiche. Auch Menschen sollte diese Einheit von Tod und Fortpflanzung ermöglicht werden.
ausstellung: jenseits des menschen / beyond humans
buch: jenseits des menschen / beyond humans
Failed Organisms fand vom 26.11.2009 bis 24.1.2010 statt im:
Laboratoria Art & Science Space
Director Daria Parkhomenko
3 Per. Obukha, 730 0167, m. Chkalovskaya
www.newlaboratoria.ru
Karpov Institute of Physical Chemistry Moscow 105064
Физико-химический научно-исследовательский Институт им. Л.Я. Карпова Russia, 105064, г. Москва, ул. Воронцово Поле, 10