Anita Hermannstädter im Gespräch mit dem Künstler Reiner Maria Matysik und der Kuratorin Ingeborg Reichle
Den Arbeiten des Berliner Künstlers Reiner Maria Matysik konnte man in den vergangenen Jahren an verschiedenen Orten und in vielfältigsten Zusammenhängen begegnen. Bekannt wurde sein künstlerisches Schaffen insbesondere durch seine Modelle postevolutionärer Organismen, die zwischen Matysiks Vision von einer aktiven, also einer von Menschenhand gesteuerten Evolution und den zukünftigen Formen einer vom Künstler geschaffenen, lebendigen Biologischen Plastik vermitteln. Diesen Prototypen zukünftiger Organismen liegt die Überzeugung zugrunde, dass die rasanten Fortschritte in der Molekularbiologie und Gentechnik eine dramatische Wirkung sowohl auf den Fortgang der biologischen Evolution als auch auf die Kunst haben werden, deren Folgen jedoch noch kaum abschätzbar sind. Kuratiert wurde die Ausstellung jenseits des menschen für das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité von der Kunsthistorikerin Ingeborg Reichle. Drei Aspekte des vielschichtigen Werkes von Reiner Maria Matysik werden im Ausstellungskonzept betont und zu einer Synthese zusammengeführt. Aus der umfangreichen Serie postevolutionärer Wesen wurden drei Exponate für einen sehr eigenen Ausstellungsraum, die so genannte Hörsaalruine, ausgewählt, die mit Stahlseilen an der Decke befestigt über den Köpfen der Besucher hängen. Im zweiten Bereich der Ausstellung rückt der Künstler die Zukunft der menschlichen Evolution ins Zentrum seiner Arbeit und wendet sich erstmals dem Material Wachs zu. Im dritten Teil betritt der Künstler ebenfalls Neuland. Mit Unterstützung des Deutschen Instituts für Zell- und Gewebeersatz und unter dem Einsatz von Verfahren des Tissue Engineering fertigte Reiner Maria Matysik aus eigenen Hautzellen erstmals eine lebende Skulptur an, die im Museum als Präparat gezeigt wird. Matysiks Arbeiten und deren Entstehungsprozess lassen sich als visuell-bildnerisches Experiment und als Beitrag zum gegenwärtigen Aushandlungsprozess um eine Welt von morgen begreifen.
Interview
- Anita Hermannstädter
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Reiner Maria, du hast in den vergangenen Jahren überwiegend in Galerien und Museen für Gegenwartskunst ausgestellt, nicht an Orten der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Welche Herausforderung stellt für dich das Ausstellen in einem medizinhistorischen Museum dar, das wissenschaftliche Objekte und Präparate präsentiert?
- Reiner Maria Matysik
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Der ideale Ort für Kunst ist immer noch der klassische, geschützte Ausstellungsraum, wie ihn ein Kunstverein, eine Kunsthalle oder ein Kunstmuseum bieten. Dieses Umfeld erleichtert den notwendigen Zugang und ermöglicht eine Auseinandersetzung ohne Energieverlust. Manche Formen der Kunst fühlen sich in diesen Räumen jedoch eingeschränkt und beengt und verlangen nach anderen, offeneren Kontexten. Bei dem, was ich mache, ist mir selbst aber gar nicht so klar, ob sich das der Kunst zuordnen lässt und durch welche Eigenschaften sich dafür ideale Orte auszeichnen sollten. Sicher ist: Ich betreibe keine Wissenschaft, was aber sonst, bleibt bislang unsicher. Ich denke, der geeignete Kontext für das von mir Hergestellte wird erst noch entstehen, zurzeit ist es also Kunst in Ermangelung eines besseren Ortes.
Letztendlich geht es um den Traum eines kleinen Jungen, etwas Neues zu entdecken, und darum, das Denken oder Erleben ein Stück weiterzubringen. Dazu stellt die Wissenschaft andere Mittel zur Verfügung als die Kunst. Beide versuchen aber, in ein von Menschen noch nicht entdecktes Gebiet vorzudringen oder bislang Ungedachtes vorstellbar zu machen.
- Anita Hermannstädter
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Du siehst deine Arbeiten demnach außerhalb der Kunst verortet?
- Reiner Maria Matysik
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Für meine Arbeiten liegt es nahe, dass sie auch in kunstfernen Zusammenhängen erscheinen. Es wäre sicherlich tragisch, gar nicht mehr im Kunstkontext aufzutauchen, da andere Rezipientengruppen meist nicht wissen, wie sie das Gezeigte eigentlich lesen sollen. Dass Kunst außerhalb der ihr eigenen Räume in Erscheinung tritt, ist inzwischen nichts Besonderes mehr. Kunst-Interventionen gibt es mittlerweile allerorten, und oft habe ich den Eindruck, dass es dabei um eine Funktionalisierung der Kunst geht, mit der der Ort, an dem sie interveniert, attraktiver gemacht werden soll. Für Arbeiten, die in Querschnittsbereichen entstehen, ergibt es aber durchaus Sinn, in solche kunstfremden Räume zu gehen. Gelungene Interventionen verhalten sich für mich allerdings nicht affirmativ zum Kontext, sondern heben ihn aus den Angeln.
Meine Ausstellung Biofakte im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn im Jahr 2008 stellte eine solche Intervention dar. Tierpräparate werden in naturkundlichen Museen entweder in nachgebildeten Lebensräumen arrangiert oder der biologischen Klassifikation folgend – oftmals in dichten Reihen – angeordnet. Diese herkömmliche Präsentation und die bis zum Bersten gefüllten Vitrinen habe ich als Verlust erlebt. In dem von mir bespielten Museumsflügel blieben die Biofakte ortlos, da sie noch gar keine Bezugslandschaft haben. Ein dauerhafter Aufenthalt in engen Vitrinen ist für sie gar nicht möglich, die Vitrinentüren waren aufgestoßen, die Scheiben zerborsten, denn diese Biofakte werden sich ihre Territorien erst noch erobern und nach eigenen Bedürfnissen umbauen.
Meine Ausstellung im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité stellt eine wesentliche Perspektive des Museums infrage, da hier der krankhafte, pathologische Körper gezeigt wird. Ich setze Arbeiten dagegen, die ungewöhnliche oder so nicht existierende Formen des menschlichen Körpers zeigen, um damit einen utopischen Ausblick auf die Möglichkeiten des Menschlichen zu geben. Ich sehe Differenz als Chance, indem Anomalien nicht als Missbildungen oder Verstümmelungen, sondern als Option zur Gestaltung, Erweiterung, Veränderung begriffen werden.
Wenn medizinische und biowissenschaftliche Techniken der Life Sciences wie Xenotransplantation oder Tissue Engineering angewandt werden, sollen der Eingriff und die Veränderungen für den Menschen möglichst begrenzt sein und im Ergebnis verborgen bleiben. Mich interessieren aber gerade die Collagen und Mischformen, die dadurch entstehen könnten. Auf einer subhumanen Stufe hergestellte Organe müssten nicht unbedingt an der für sie von der Natur vorgesehenen Stellen eingepflanzt werden. Sie können auch Basis für eigenständige, individuelle Organismen werden, die ganz andere Formen menschlichen Lebens ermöglichen. Vielleicht nähern wir uns da Friedrich Schlegel überraschend an, der schrieb, dass das höchste vollendetste Leben ja nichts als ein reines Vegetieren wäre.
- Anita Hermannstädter
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Ingeborg, du bewegst dich derzeit im Spannungsfeld zwischen deiner Tätigkeit als Kunsthistorikerin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Kuratorin dieser Ausstellung. Welche Impulse geben dir deine Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft beim Kuratieren der Ausstellung?
- Ingeborg Reichle
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Meine wissenschaftliche Arbeit der vergangenen Jahre erscheint mir durch meine kuratorische Tätigkeit in einem neuen Licht. Als ich vor gut zehn Jahren damit begann, über Kunst aus dem Labor zu forschen, war mir nicht bewusst, wie aufwendig es ist, Laborbedingungen in einem öffentlichen Ausstellungskontext herzustellen, und wie schwierig, ja fast unmöglich es für Künstler ist, Zugang zu wissenschaftlichen Einrichtungen zu erlangen. In jüngster Zeit ist dies einfacher geworden durch Artist-in-Residence-Programme und eine größere Offenheit seitens der Wissenschaft, Künstler in ihren laborwissenschaftlichen Forschungskontext zu integrieren und ihnen die Möglichkeiten zu eröffnen, künstlerisch motivierte Projekte im Labor zu realisieren. Die Ergebnisse meiner Forschung sind bislang vor allem in Vorträge beziehungsweise Publikationen geflossen. Das Ausstellungsmachen erfahre ich als produktiv und sinnvoll, nicht zuletzt durch die Möglichkeit der Verknüpfung von Theorie und Praxis. Die Arbeiten von Reiner Maria Matysik sind mir vor etwa zehn Jahren in einer Berliner Ausstellung begegnet und fanden Eingang in mein Buch Kunst aus dem Labor (2005). Als ich mit Kollegen 2007 eine Tagung und Publikation zu Visuellen Modellen vorbereitete, war dies eine gute Gelegenheit, umfassender zu Reiner Maria Matysiks postevolutionären Wesen zu arbeiten. Das heißt, dieser Ausstellung geht eine jahrelange Beschäftigung mit den Theorien und vor allem mit den Produktionsweisen des Künstlers voraus.
- Anita Hermannstädter
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Ingeborg, mit der Reihe Interventionen eröffnete das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité Künstlerinnen und Künstlern einen experimentellen Raum, in dem sie der Medizingeschichte vom 18. Jahrhundert bis heute begegnen und sich dazu positionieren können. Die Ausstellung jenseits des menschen konfrontiert das Kranke, Pathologische mit dem visionär Vielfältigen. Wie wird das Spezifische des Ortes in deinem kuratorischen Konzept problematisiert?
- Ingeborg Reichle
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Rudolf Virchow, der Begründer des Museums, hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit begonnen, die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu erforschen. Mit einer über 23.000 pathologisch-anatomische Feucht- und Trockenpräparate umfassenden Sammlung wollte er in seinem Museum das damals bekannte Spektrum menschlicher Krankheiten möglichst vollständig darstellen. Dies schloss alle nur erdenklichen Spielarten der Natur mit ein und offenbarte die – manchmal monströse – Vielfalt, welche die Natur hervorbringen kann. Reiner Maria Matysik zeigt uns mit seinen für diese Ausstellung produzierten Arbeiten die Vielfalt des Lebens, die der Mensch bewusst herstellen könnte und in der Zukunft wohl auch herstellen wird. Womöglich werden dann ganz andere Körpervorstellungen virulent sein, die sich nicht mehr an heutigen Normen orientieren. Und doch: Die zukünftigen Lebensformen, die der Künstler den Präparaten gegenüberstellt, ähneln in ihren Formen zuweilen den Präparate in den Vitrinen. Interessant ist die Leerstelle, die zwischen den künstlerisch motivierten Objekten und den historischen Exponaten klafft: Wir sehen keine technischen Hilfsmittel, keine Prothesen oder künstlich geschaffene, funktionell ähnliche Produkte, die den zukünftigen Menschen als einen Cyborg darstellen. Der technologische Zugriff auf das Lebendige ist heute schon so weit fortgeschritten, dass es auf molekularer Ebene beherrschbar ist und unser Auge natürliche Lebewesen nicht von künstlichen unterscheiden kann. Es geht hier weniger um Technikvisionen zukünftiger medizinischer Leistungen, sondern um die Frage der Transformation unserer Vorstellung vom Lebendigen. Unsere Vorstellung vom Menschen ist viel älter als die Technik, die uns heute zur Manipulation des Lebendigen zur Verfügung steht. Noch gibt es strenge rechtliche und ethische Regeln, die eng an der Vorstellung von der zweckgerichteten Heilung des Menschen ausgerichtet sind. Was jedoch, wenn in einer nicht allzu fernen Zukunft auch das Lebendige zu einem zweckfreien Medium wird, in dem sich zum Beispiel Künstler ausdrücken können? Mit den autonomen organartigen Geweben beziehungsweise Entitäten, die uns der Künstler präsentiert, sehen wir etwas, dessen Status erst noch verhandelt werden muss. Für mich ist das Medizinhistorische Museum der ideale Ort, diese wichtigen Fragen, die uns alle angehen, in einer präzisen Situation zu thematisieren.
- Anita Hermannstädter
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Reiner Maria, für die Ausstellung jenseits des menschen arbeitest du zum ersten Mal mit Wachs, einem Material, das von jeher in der Wissenschaft und Kunst zur Fertigung von Modellen verwendet wurde und wird. Welche Bedeutung hat die Wahl dieses Materials für deine Ausstellung im Museum der Charité?
- Reiner Maria Matysik
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Sicher ist das Interesse, selber mit Wachs zu arbeiten, auch aus der Betrachtung der Moulagen im Medizinhistorischen Museum erwachsen. Der Frage nach dem Material sollte aber nicht so viel Gewicht beigemessen werden. Die Entscheidung für Wachs hängt mit den dem Material eigenen Qualitäten zusammen: Transparenz, Fleischlichkeit, Wärme, Hautartigkeit. Sicher hat Wachs eine Tradition, die auch stets mitgedacht wird, wenn wir Objekten aus Wachs gegenübertreten. Letztlich ist aber auf der Suche nach visueller Präsenz jedes Mittel, jedes Material recht. Damit das nicht falsch verstanden wird: Es geht nicht um handwerkliches Können, das aus der ungestalten Masse genialisch das in ihm steckende Geheimnis herausformt. Die Arbeit besteht vor allem darin, das Gegebene durch eine Kontextverschiebung anders in Erscheinung treten zu lassen.
Beide Verfahren ergänzen sich. Über Materialität, Form, Oberfläche oder Farbe lassen sich die Objekte nicht erfassen. Sie sind eingebunden in den Kontext ihres Auftretens. Bei den Modellartigen sind zum Beispiel die Klassifizierungen und Beschreibungen Teil der Arbeit. Präsentationsform und präsentiertes Objekt bilden eine untrennbare Einheit. Diese Arbeitsweise führt dann auch dazu, die Qualitäten des Umfelds mit einzubeziehen.
- Anita Hermannstädter
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Reiner Maria, die Ausstellung besteht aus drei Teilen: den Wachsmodellen im Präparatesaal, den Wesen in der Hörsaalruine und einer »lebenden Skulptur«, die im Labor entstanden ist, im Museum jedoch nur als Präparat gezeigt werden kann. Dafür wurde dir operativ Haut entfernt, um daraus im Labor des Deutschen Instituts für Zell- und Gewebeersatz cell sheets züchten zu können. Näherst du dich mit dem Einsatz von lebendigem Material bewusst der Kunstrichtung der sogenannten BioArt an, die die Nähe zu technischen Verfahren der Biowissenschaften sucht und jene auch anwendet?
- Reiner Maria Matysik
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Ich würde mich selbst als einen Begründer der BioArt sehen. Die Faszination für biologisches Material begleitet mich seit meiner Jugend. Ohne mich für Kunst oder Wissenschaft schon entschieden zu haben, spielten für mich Naturerfahrung und Naturerlebnis eine große Rolle. Die Frage: »Was ist Natur?« beschäftigte mich schon lange. Mein Interesse ist im Laufe der Jahre nicht geschwunden, nur haben sich die Mittel der Auseinandersetzung verändert. In verschiedenen Teilen der Welt haben Personen aus ihrer eigenen Geschichte und Kultur kommend Fragen an das Organische unserer Existenz gestellt, künstleris mit lebendiger Substanz gearbeitet und dabei biologische Techniken in ihrer Produktion genutzt.
Schon 1995, im ersten Jahr meines Studiums, habe ich mit vegetativem, lebendigem Material gearbeitet und mittels einer Pfropftechnik Organismen miteinander verbunden. Da mir die Arbeit mit dem lebendigen Material aber zu beschränkt, organisatorisch zu aufwendig, zu sehr durch technische, logistische oder juristische Barrieren eingeschränkt erschien, habe ich die Freiheiten genutzt, die das Arbeiten auf der Modellebene ermöglicht. Nach verschiedenen Projekten im Rahmen der BioArt genannten Kunst frage ich mich, ob die Realisierung nach den von mir entwickelten Kriterien nicht lohnender wäre. 1999 habe ich ein Buch über zukünftige Lebensformen herausgegeben, das Gentechnik und Kunst zusammenbrachte. Damals hatte ich den Lehrstuhlinhaber für Genetik an der Universität Bielefeld, Prof. Alfred Pühler, gebeten, seine Forschung zur Fluoreszenzmarkierung bei Tabak in diesem Kontext zu publizieren. Die Pflanzen, deren grünes Leuchten mir gezeigt wurde, sollten im Kontext von Kunst auftauchen. Für mich war dies allerdings Ereignis genug, und ich sah keine Notwendigkeit darin, dieses (zu der Zeit) spektakuläre Readymade noch weiter zu verändern.
In William Gibsons Neuromancer wird dem Protagonisten anstelle eines Steaks »vatgrown flesh« serviert. Forschung zu In-vitro-Fleisch wurde 2002 von der NASA in Auftrag gegeben, in Norwegen arbeitet das Lebensmittelforschungsinstitut Nofima Mat und an der Universität Utrecht forschen Molekularbiologen an Fleisch aus im Labor gezüchteten Zellen. Nun ist mit der Arbeit The Remains of Disembodied Cuisine vom Tissue Culture & Art Project diese aus der Literatur gekommene Vision nach der Erprobung für Spezialfälle der Ernährung in der bildenden Kunst angekommen. Kann ein Nachdenken über das, was wir als soziale und politische Effekte der neuen Biotechnologien bezeichnen, angestoßen werden, wenn Projekte aus anderen Kontexten in der Kunst gezeigt werden?
Nach meinen frühen Arbeiten mit lebenden Pflanzen gab es erst zweimal einen für mich interessanten Rahmen, um mit lebender Materie auf molekularbiologischer Ebene zu arbeiten. Ich habe an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig im Wintersemester 2003/04 das Ibiop gegründet. Unter dem Titel Von der Biomasse, die du bist, zur neuen Lebensform versuchte ich in Kooperation mit dem Biozentrum der Technischen Universität Braunschweig herauszufinden, wie Studieninhalte den künstlerischen Handlungsspielraum auf das Feld der Biologie und Life Sciences ausweiten können. Die entscheidende Frage des Evaluationsberichts: »Wird es den Studiengang Biologische Plastik geben?« wurde leider negativ entschieden. Die Charité bietet mir nun erneut einen interessanten Rahmen, um mit lebender Materie zu arbeiten.
Die grundlegende Trennung zwischen metaphorischem oder hands-on science-Arbeiten ergibt nur bedingt Sinn. Viele Künstler nutzen beides für ihre Arbeiten. Es kommt nicht unbedingt darauf an, im Labor zu stehen. Manche Positionen werden zu schnell in den Komplex BioArt aufgenommen. Wenn zum Beispiel die Haut des australischen Künstlers Stelarc penetriert wird, ist es produktiver, dies in der Tradition der Wiener Aktionisten zu erörtern als im Kontext der BioArt.
- Anita Hermannstädter
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Reiner, Verfahren der Molekularbiologie wie das Genetic Engineering oder Tissue Engineering und nicht zuletzt die Synthetische Biologie werden einen Eingriff in die Evolution und vermutlich sogar die Herstellung neuer Lebensformen ermöglichen. Welche Herausforderung hält in deinen Augen diese Entwicklung für unsere modernen Gesellschaften bereit und wie positioniert sich die Kunst dazu?
- Reiner Maria Matysik
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Die Kunst hat ein Problem, da sie sich derzeit stark an ökonomischen Verwertungsinteressen orientiert, die von außen an sie herangetragen werden. Die Frage muss lauten: Will sich die Kunst wirklich nur auf ihren Warencharakter reduzieren lassen oder schafft sie es, sich davon zu lösen und andere Interessen zu verfolgen. Sicher, es gab Kunst, die revolutionär sein oder sich nicht »in die Dienste des Kapitals« stellen wollte. Ich denke, auch die gegenwärtige Umgestaltung der Welt kann die Kunst nicht den Kapitalinteressen oder der Wissenschaft überlassen. Kunst will zu Recht vorneweg mit dabei sein, um ihren eigenwilligen Teil zu aktuellen Entwicklungen beizutragen.
Als ich begonnen habe, diese Modelle zu entwickeln, wusste ich nichts von Synthetischer Biologie. Gab es diesen Begriff da überhaupt schon? Jetzt lesen sich Texte zur Synthetischen Biologie wie eine Einführung zu meinen Arbeiten. Wird mein Projekt gerade von der Wirklichkeit überholt? Ich war vielleicht der Einzige, der an postevolutionären Organismen aus unbelebter Materie gearbeitet hat, und nun finde ich Andere – nicht in der Kunst, sondern in der Wissenschaft, die an nichts weniger als an der Neuerfindung der Natur arbeiteten.
- Ingeborg Reichle
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Die Verwendung des Begriffs Synthetische Biologie ist in der Forschung geprägt durch den Bericht von Eric Kool im Magazin Chemical & Engineering News aus dem Jahr 2000 zum Einbau von künstlichen chemischen Komponenten in biologische Systeme. Der Begriff kommt jedoch schon im Jahr 1912 in der Veröffentlichung des französischen Biologen Stéphane Leduc La Biologie Synthétique vor. In eben diesem Jahr formulierte der deutsch-amerikanische Biologe Jacques Loeb, dass es prinzipiell möglich sein sollte, künstliche lebende Systeme zu generieren.
- Anita Hermannstädter
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Kunst aus dem Labor ist im zeitgenössischen Kunstbetrieb nach wie vor ein Randphänomen. Obwohl es 2003 anlässlich des Jubiläums der Entdeckung der Molekularstruktur der DNA durch James D. Watson and Francis Crick zahlreiche Ausstellungen zur Rezeption der Genetik und Biowissenschaften in der Kunst gab. Worin könnten die Berührungsängste etablierter Kunstinstitutionen begründet liegen?
- Ingeborg Reichle
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Es sind nicht nur die Berührungsängste etablierter Kunstinstitutionen, sondern auch die des gesamten Kunstmarkts. Der zeitgenössische Kunstbetrieb ist auf die »lebendigen« Medien, derer sich Künstler zuweilen bedienen, um ihre Arbeiten oder Konzepte im Labor umzusetzen, nicht eingerichtet. Ein transgenes Kaninchen oder die Forschungsexpedition in ein Biotop im Vorgarten lassen sich nur schwer über ein Sofa hängen und in eine Früh- oder Spätphase eines individuellen künstlerischen Schaffensprozesses eintakten, der für die Zukunft eine hohe Rendite verspricht. Zuweilen sehe ich hier Parallelen zur Geschichte der Medienkunst, die lange ein Randphänomen war und die bis heute nicht wirklich in den etablierten Kunstinstitutionen im großen Maßstab angekommen ist. Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Es sind eher Institutionen mit einer naturwissenschaftlich ausgerichteten Perspektive, wie medizinhistorische Museen, Naturkundemuseen oder Science Center, die diese Kunst einem breiten Publikum zugänglich machen. Künstler der BioArt lehnen es jedoch oftmals ab, ihre Arbeiten beziehungsweise Projekte in diesen Kontexten zu zeigen, da ihnen diese Institutionen zu sehr mit einem didaktischen Anspruch belegt ist und dies als Abwertung ihrer Kunst verstanden wird. Das beschreibt wohl das Dilemma dieser Kunstrichtung.
- Anita Hermannstädter
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Ingeborg, die Kunstgeschichte gleicht weniger einem Archiv denn einer Erzählung, die immer wieder umgeschrieben wird. Welchen Beitrag leisten im gegenwärtigen Revisionsprozess jene Künstlerinnen und Künstler, die das Labor samt seinen wissenschaftlichen Methoden und technischen Verfahren ins Museum überführen?
- Ingeborg Reichle
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Ich denke, es ist noch zu früh für eine umfassende Einschätzung dieses Prozesses. Aber sowohl an Kunstakademien und Kunsthochschulen als auch an einigen wenigen kunsthistorischen Instituten ist dieser Interventionsprozess bereits im Gange. Nennen will ich hier das The Arts & Genomics Centre, das 2005 von dem Kunsthistoriker Robert Zwijnenberg begründet wurde und sowohl am Kunsthistorischen Institut als auch am Institut für Chemie der Universität Leiden angesiedelt ist. Erwähnt werden sollte auch die Sommerschule Living Matter, Art & Research & Science Studies in Biological Laboratories, die im Juli 2010 an der Kunsthochschule für Medien Köln stattfand.
- Anita Hermannstädter
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Reiner Maria, deine Forderung nach einer aktiven Evolution, die mit der Ausstellung jenseits des menschen nun auch auf die Fortschreibung der Evolution des Menschen übergreift, könnte aus ethischer Sicht missverstanden werden.
- Reiner Maria Matysik
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Die aktive Evolution ist eher etwas, von dem ich ausgehe, dass es eintreten wird, nicht etwas, das ich fordere. Und ohne eine grundlegende Revision der gegenwärtigen Ethik gibt es durchaus weitgehende Differenzen. Kunst als Projekt bewegt sich außerhalb von rational begründeten Übereinkunftszusammenhängen. Ästhetische Aufklärung jenseits reiner Vernunft agiert sozusagen im luftleeren Raum. Damit fällt es Kunst dann schwer, ein Sprungbrett zu neuen Territorien oder zumindest zu festem Boden zu finden. Ohne die Verortung gilt sie als ein Beispiel für verminderte Zurechnungsfähigkeit oder als an Realitätsverlust leidend. Versinkt die künstlerische Arbeit im Morast? Ist sie ein pathologisches Hirngespinst? Wenn ja, käme sie als solches zum Glück nicht in die Rolle, Wissensproduzent werden zu müssen. Da der Begriff Wissen zu sehr der Wissenschaft zugehört, könnte sie jenseits der festgelegten Logik nach Bezugspunkten suchen.
Findet sie eine solche Basis, bietet sich die Möglichkeit, eine völlig neue Ethik zu entwerfen und nicht die Arbeiten mit der gegenwärtig dominierenden Ethik zu bewerten. Wir erleben, dass Organismisches zugerichtet wird, neue Wesen gedacht und mit rasanter Geschwindigkeit realisiert werden. Führen wir wissenschaftliche Projekte unter künstlerischer Regie durch, ist ein erster Schritt getan.
Dieses Interview fand am 24. Juni 2010 in den Räumen der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Bildkulturen an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Berliner Gendarmenmarkt statt.
ausstellung: jenseits des menschen / beyond humans
buch: jenseits des menschen / beyond humans